Die zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie geplante Impfpflicht wäre derzeit voraussichtlich verfassungswidrig. Die geplante Impfpflicht stellt einen erheblichen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und das individuelle Selbstbestimmungsrecht dar. Ein solcher lässt sich gegenwärtig nicht rechtfertigen. Zwar kann die körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Absatz 2 GG durch Gesetz eingeschränkt werden. Ein solcher Eingriff muss aber einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten.
Spielraum des Gesetzgebers
Zur Bekämpfung der Corona-Pandemie verfügt der Gesetzgeber über einen Spielraum, der umso weiter ist, je größer die Gefahren und Erkenntnislücken sind, die Maßnahmen müssen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung standhalten (BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21). Dass eine Impfpflicht verfassungsrechtlich prinzipiell möglich ist, hat das Bundesverfassungsgericht anlässlich der im März 2020 eingeführten Masern-Impflicht festgestellt (BVerfG, Beschluss vom 11.05.2020 – 1 BvR 469/20).
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat vier Prüfungspunkte: Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit. Bei Zugrundelegung der dafür geläufigen Prämissen würde sich eine Corona-Impfpflicht bei der derzeitigen Gefahrenlage als verfassungswidrig erweisen.
Legitimer Zweck – brauchen wir eine Impfpflicht?
Der Gesetzgeber muss mit der Corona-Impfpflicht einen legitimen Zweck verfolgen. Ein legitimer Zweck kann jedenfalls in der Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems zu sehen sein. Der Schutz der Menschen vor einer Corona-Erkrankung ist hingegen kein legitimer Zweck, da die Selbstgefährdung ebenso wie das Unterlassen individueller Schutzmaßnahmen seinerseits grundrechtlichen Schutz genießt, Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art. 1 Absatz 1 GG. Impfungen sind in Deutschland derzeit für alle Impfwilligen verfügbar. Wer sich mit einer Impfung schützen möchte, kann sich impfen lassen. Und wer sich gegen die Impfung entscheidet, macht von seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Recht Gebrauch.
Selbstgefährdung als Gefahr für das Gesundheitssystem
Die grundrechtlich geschützte Selbstgefährdung wird aber zum Problem für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, wenn die Behandlungskapazitäten nicht ausreichen. Bei einer zu großen Anzahl schwerer Corona-Fälle ist zu befürchten, dass erforderliche Behandlungen, wie Herzinfarkt- oder Krebsbehandlungen, nicht durchgeführt werden können. Menschen können zu Schaden kommen. Bei Kapazitätsengpässen ist außerdem die Anwendung der Triage zu befürchten, wofür das BVerfG dem Gesetzgeber bereits einen Regelungsauftrag erteilt hat (BVerfG, Beschl. v. 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20 – mehr hier). All dies zu vermeiden ist legitim.
Allerdings mehren sich Stimmen, die eine Überforderung des Gesundheitssystems bezweifeln. Denn trotz hoher Inzidenzen steigt die Anzahl schwerer Coronaverläufe nicht gleichermaßen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass die derzeit kursierende Omikron-Variante deutlich milder verläuft. Die Intensivstationen sind nicht überlastet und die Sterblichkeitsrate ist offenbar deutlich geringer geworden.
Geringere Sterblichkeit als bei der Influenza-Grippe
Die Letalität symptomatisch erkrankter Menschen hat in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie 2,1 Prozent betragen. Gegenüber der nur 0,5 Prozent betragenden Sterblichkeit bei Influenza, die in der Grippesaison 2017/18 besonders viele Opfer gefordert hat, ging von Covid-19 daher eine größere Gefahr aus. Mit Omikron dominiert derzeit aber eine milde verlaufende Variante das Infektionsgeschehen. Der milde Verlauf spiegelt sich sowohl in der geringen Auslastung der Intensivstationen als auch den Todesraten wider.
Letalität 0,5 bei Influenza vs. 0,05 bei Omikron
Derzeit scheint die Omikron-Variante deutlich weniger Opfer zu fordern als die zuvor grassierenden Alpha- oder die Delta-Varianten von Covid-19. Im Mittel stirbt lediglich jeder 2000. symptomatisch an Omikron Erkrankte, das sind gerade einmal 0,05 Prozent.
Die Zahl variiert je nachdem ob die Erkrankten ungeimpft, geimpft oder geboostert waren. Für Geimpfte beträgt die Letalität 0,038 Prozent während Ungeimpfte mit 0,071 Prozent nach wie vor gefährdeter sind. Angesichts der unzuverlässigen Erfassung der Anzahl von hospitalisierten Ungeimpften, bei der Patienten ohne Impfstatus kurzerhand den Ungeimpften zugeschlagen worden sind, ist die Differenzierung zwischen Ungeimften und Geimpften mit einem Fragezeichen zu versehen. Fest steht, dass beide Gruppen ein um ein Vielfaches geringeres Corona-Sterberisiko haben als bei einer Influenza-Erkrankung.
Die zu Beginn der Pandemie als unverantwortliche Verharmlosung kritisierte Behauptung, Corona sei nicht gefährlicher als eine Grippe, scheint nun zuzutreffen. Corona fordert statistisch gesehen derzeit lediglich ein Zehntel so viele Opfer wie die Grippe.
Allgemeines Lebensrisiko – Grundrauschen
Mit diesen Zahlen haben sich der Gesetzgeber und im Nachhinein voraussichtlich auch das Bundesverfassungsgericht auseinanderzusetzen. Das Sterberisiko dürfte sich in einem Bereich bewegen, der aus rechtlicher Sicht dem allgemeinen Lebensrisiko zuzuordnen ist. Die Sterblichkeit der Influenza als Vergleichsgröße heranzuziehen, liegt auf der Hand. Die Influenza fordert alljährlich zahlreiche Todesopfer. Niemand käme auf die Idee, die Menschen, und sei es nur die besonders gefährdeten Teile der Bevölkerung, durch Kontaktbeschränkungen oder Lockdowns zu schützen.
Die Einführung einer Influenza-Impfpflicht ist selbst nach der verheerenden Grippesaison 2017/18 nicht politisch nennenswert debattiert worden. Es ist kaum denkbar, warum eine geringere Sterblichkeit bei Covid-19 eine Impfpflicht rechtfertigen soll. Liegt die Sterblichkeit von Corona unterhalb der Sterblichkeit von Krankheiten, die als allgemeines Lebensrisiko praktisch dem Grundrisiko des menschlichen Daseins zugeschlagen werden, ist bereits zu bezweifeln, ob der Gesetzgeber ein legitimes Ziel verfolgt.
Das gilt auch dann, wenn die Omikron-Welle durch die schiere Anzahl von Erkrankungen auch gering erscheinende Prozentzahlen zu namhaften absoluten Zahlen werden lässt. Auch hier darf ein Blick auf den Umgang mit der Influenza erlaubt sein: Während der besonders heftigen Grippesaison 2017/18 war teilweise eine Überlastung des Gesundheitssystems festzustellen, ohne dass dies nennenswerte Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Zu konstatieren ist daher, dass sogar eine zeitweise Überlastung des Gesundheitssystems keine absolute um jeden Preis zu vermeidende Zielgröße darstellt. Wie hoch der Preis sein darf, um dem Ziel näher zu kommen, und ob dafür Menschen zur Impfung verpflichtet werden dürfen, das müssen zunächst die Abgeordneten entscheiden. Gewiss ist, dass die Impfpflicht, wenn sie denn beschlossen wird, einer strengen Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterzogen wird.
BVerfG prüft Grenzen eines weiten Spielraums
Wenn man den Umgang mit der Influenza in den vergangenen Jahren zum Vergleich heranzieht, kann die geplante Corona-Impfpflicht kaum einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Zu berücksichtigen ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht nur die Grenzen der gesetzgeberischen Machtausübung prüft. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Einführung einer Impfpflicht bei Covid-19 rechtswidrig ist, wenn der Gesetzgeber bei Influenza untätig geblieben ist. Hier gibt es vielmehr einen Spielraum. Das BVerfG prüft nur, ob der Gesetzgeber die Grenzen des ihm zustehenden Spielraums eingehalten hat.
Letalität als Indikator
Die vorstehenden Betrachtungen beschränken sich auf die Sterblichkeitsrate und sind naturgemäß nur eingeschränkt aussagekräftig. Um ein umfassendes Bild zu erhalten, wären zahlreiche weitere Faktoren zu berücksichtigen. Denn die Sterblichkeitsrate sagt nicht zwangsläufig etwas über die Belastung des Gesundheitssystems aus. Ebenso wenig verraten die Letalitätsraten über besondere Risikogruppen, die möglicherweise einen geringen Prozentsatz in der Gesamtbetrachtung ausmachen aber womöglich überproportional belastet sind. Zu betrachten wären zudem Folgeleiden, die aus einer durchgemachten Infektion entstehen. Berücksichtigung verdient auch der Gesichtspunkt, dass eine um sich greifende Omikron-Ausbreitung tendenziell die Entstehung weiterer Subtypen fördert, unter denen sich gefährliche Varianten befinden können.
Alles in allem scheinen diese Gesichtspunkte aber nicht wirklich gegen die dargestellte Skepsis an der Einführung einer Corona-Impfpflicht zu sprechen. Die Subtypenbildung ist kein Phänomen, dem eine deutsche Impfpflicht wirksam entgegentreten könnte. Solange zahlreiche Menschen weltweit an Corona erkranken, schreitet auch die Bildung von Varianten ungehemmt voran. Mit der derzeit weltweit zu verzeichnenden Impfquote von gerade einmal 52,5 Prozent ist eine weltweite Herdenimmunität in weiter Ferne, ganz zu schweigen von der für einen wirksamen Schutz wohl erforderlichen Boosterimpfung. Eine weltweite Immunisierungsquote von 80-90 Prozent ist illusorisch.
Mit den milderen Verläufen ging bisher keine Verschiebung bei besonders betroffenen Bevölkerungsgruppen einher. Es erkranken keineswegs Kinder oder 30-Jährige schwerer, sondern nach wie vor sind es die betagten Jahrgänge, die ein besonders hohes Risiko sowohl für einen schweren Verlauf als auch einen tödlichen Ausgang haben. Mit der Zunahme der milden Verläufe war bislang auch keine Zunahme von Long-Covid-Fällen zu verzeichnen. Im Gegenteil scheinen mildere Omikron-Verläufe das Risiko von Langzeitfolgen in gleicher Weise zu reduzieren wie dies bei milden Alpha- und Delta-Infektionen bereits der Fall war.
Eignung der Impfpflicht
Wenn man entgegen der Bedenken das Vorhandensein eines legitimen Zwecks unterstellt, müsste die Impfpflicht geeignet sein. Das ist der Fall, wenn sie der Erreichung des legitimen Zwecks förderlich ist. Dafür muss die Impfpflicht nicht zwingend zur Zweckerreichung in einer Weise taugen, dass damit das legitime Ziel erreicht wird. Vielmehr genügt es, wenn die Maßnahme einen Schritt in Richtung Zweckerreichung darstellt. Diese Anforderung wäre bei der Impfpflicht zu bejahen. Denn die Impfung verringert nachweislich die Anzahl schwerer Krankheitsverläufe und trägt dazu bei, die Belastung des Gesundheitssystems zu reduzieren.
Eine Rolle spielt aber, ob die seitens politischer Entscheidungsträger gemachte Ankündigung, dass niemand zwangsweise geimpft werden soll, Eingang in das Gesetz finden wird. Wie diese Ankündigung mit einer Impfpflicht, die ein staatliches Gebot beinhaltet, in Einklang zu bringen ist, ist unklar. Denn eine Pflicht, die nicht durchgesetzt werden soll, ist keine Pflicht. Fragwürdig ist auch, wie eine Pflicht, die nicht durchgesetzt werden soll, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren kann oder ob ihr nicht vielmehr als zahnloser Tiger bereits die Eignung abzusprechen ist.
Erforderlichkeit & Angemessenheit
Bei der Prüfung der Erforderlichkeit ist die Frage zu stellen, ob gleich effektive mildere Mittel zur Förderung des legitimen Ziels zur Verfügung stehen. Die Bandbreite alternativer Mittel ist groß. Sie reicht von der Maskenpflicht über Kontaktbeschränkungen bis hin zum Lockdown. Besonderes Augenmerk ist auf die Gleichwertigkeit alternativer Maßnahmen zu legen und darauf, mit welchen Eingriffen diese Maßnahmen ihrerseits verbunden sind. So kann ein Lockdown zwar der Überlastung des Gesundheitssystems entgegenwirken, führt aber gleichermaßen zu erheblichen Grundrechtseinschränkungen bei denjenigen, die von den Maßnahmen betroffen sind (Art. 2 Absatz 1, Art. 12, Art. 14 GG).
Bei der Prüfung der Angemessenheit erfolgt schließlich eine Abwägung der betroffenen Grundrechte, bei der dem Selbstbestimmungsrecht und der körperlichen Unversehrtheit ein hohes Gewicht beizumessen ist.
Einzelheiten maßgeblich
Ob die Einführung der Corona-Impfpflicht einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhält ist von den Details des geplanten Gesetzes abhängig und davon, wie sich die Corona-Zahlen in den kommenden Wochen entwickeln. Der aus der Impfung 18-Jähriger, bei denen nur ganz ausnahmsweise schwere Verläufe zu verzeichnen sind, resultierende Nutzen für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems dürfte gering sein. Dementsprechend schwierig ist in solchen Fällen die Impfpflicht zu rechtfertigen. Bei 70-Jährigen kann das anders aussehen.
Gewissensentscheidung der Abgeordneten
Die Entscheidung über eine Covid-19-Impfpflicht in die Hände des Parlaments zu legen ist zu begrüßen, denn die Entscheidung berührt Grundrechte und stellt einen schwerwiegenden Eingriff dar. Solche Entscheidungen sind Sache des Parlaments und dürfen nicht der Verwaltung überlassen werden. Auch die Aufhebung des Fraktionszwangs, der für sich genommen bereits kritisch zu sehen ist, weil Abgeordnete von Verfassungs wegen ihrem Gewissen und nicht dem Fraktionswillen unterworfen sind (Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG), ist zu begrüßen. Denn das ist ein erster Schritt zur Überwindung der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft.
Haben Krankheitsverläufe symptomatisch Erkrankter deutlich mildere Verläufe als das bei der alljährlichen Influenza-Grippesaison zu verzeichnen ist, lässt sich die Impfpflicht nicht auf das Ziel der Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems stützen. Konsequenterweise dürfte das Parlament ein solches Gesetz nicht beschließen. Tut es das doch, wird das Gesetz einer Prüfung durch das BVerfG aller Voraussicht nach nicht standhalten und für verfassungswidrig erklärt werden.
Abgeordnete „… sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Art. 38 Absatz 1 Satz 2 GG
BVerfG, Beschluss vom 19.11.2021 – 1 BvR 781/21; Beschluss vom 16.12.2021 – 1 BvR 1541/20; Beschluss vom 11.05.2020 – 1 BvR 469/20
Quelle Zahlen: Die Angaben zu Sterblichkeitsraten bei symptomatischen Covid-19-Omikron-Infektionen sind einem Bild-online Beitrag entnommen (abgerufen am 22.01.2022) und nicht überprüft aber anhand der von der Johns Hopkins University und vom Robert Koch Institut bereitgestellten Daten plausibilisiert worden.