Anwalt gehört nicht zur „kritischen Infrastruktur“ (OVG SH, Beschl. v. 12.05.2020 – 3 MB 25/20)

Der Covid 19-Pandemie wurde unter anderem mit der Schließung von Schulen und Kindergärten entgegengetreten, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Ausnahmen sahen die landesrechtlichen Regelungen nur für Kinder von Menschen vor, die in Bereichen der „kritischen Infrastruktur“ beschäftigt sind.

Rechtsstaat & öffentliches Leben

Welche Berufsgruppen zur „kritischen Infrastruktur“ gehören, ist in den Ländern unterschiedlich geregelt. Die Regelungen haben gemeinsam, dass es sich um Berufe handelt, welche Grundbedürfnisse des öffentlichen Lebens betreffen und die für die Aufrechterhaltung der rechtsstaatlichen Ordnung unabdingbar sind. Die Regelung in Schleswig-Holstein sah Ausnahmen vor für folgende Bereiche (§ 10 Absatz 1 Nummer 10 SARS-CoV-2-BekämpfVO):

Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung, Polizei, Feuerwehr, Katastrophenschutz, Justiz, Veterinärwesen, Küstenschutz, Hochwasserschutz.

§ 10 Absatz 1 Nummer 10 SARS-CoV-2-BekämpfVO

Wer nicht in einem dieser Bereiche tätig ist, durfte seine Kinder nicht in den Kindergarten bringen und konnte dementsprechend nicht seinem Beruf nachgehen. Das schleswig-holsteinische Oberverwaltungsgericht hatte darüber zu entscheiden, ob Rechtsanwälte zur „kritischen Infrastruktur“ gehören.

Rechtsanwalt gehört nicht zur Justiz

Anwälte sind zwar von Gesetzes wegen „Organe der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO), gehören aber nicht zur Justiz. Unter Justiz fallen gemeinhin hoheitliche Aufgaben der Rechtsprechung und damit verbundene Aufgaben. Da ein Anwalt grundsätzlich nicht hoheitlich tätig ist, zählt dieser nicht zur Justiz.

Nach Auffassung des OVG S-H gilt das auch dann, wenn hoheitliche Aufgaben auf den Anwalt übertragen sind, wie dies bei der Insolvenzverwaltung der Fall ist.

Ungleichbehandlung von Justiz und Anwalt?

Einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungssatz (Art. 3 GG) erkannte das OVG S-H nicht. Vielmehr sei die Differenzierung zwischen der Justiz und der Anwaltschaft von der Einschätzungsprärogative des Verordnungsgebers gedeckt. Das heißt dass der VO-Geber einen weiten Spielraum hatte und die Unterscheidung nach Auffassung des Gerichts so treffen durfte.

Für den Rechtsstaat wesentlich aber nicht wichtig

Wenngleich Anwälte – so das OVG SH – „wesentlich“ für das Funktionieren des Rechtsstaats seien, komme ihnen keine Bedeutung zu, die mit den in § 10 Absatz 1 Nummer 10 SARS-CoV-2-BekämpfVO genannten Bereichen vergleichbar ist.

Kritik

Die Entscheidung ist eklatant fehlerhaft. Das Gericht verkennt, dass der Beruf des Anwalts / der Anwältin für einen funktionierenden Rechtsstaat erforderlich ist. Die Aussage, der Beruf sei einerseits für den Rechtsstaat „wesentlich“ aber andererseits nicht vergleichbar mit wichtigen Bereichen, ist nicht nachvollziehbar.

Anwaltlicher Vertretungszwang

Überall wo das Gesetz die Vertretung durch einen Anwalt vorsieht, drohen rechtliche Nachteile, wenn anwaltliche Unterstützung nicht verfügbar ist. Das ist beispielsweise in Verfahren bei den Landgerichten oder bei den Oberverwaltungsgerichten der Fall (vgl. § 78 ZPO, § 67 Absatz 4 VwGO).

Straf- und Owi-Verfahren

Davon abgesehen drohen Betroffenen von Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren Nachteile, wenn anwaltliche Unterstützung nicht zu erhalten ist. So sieht die Strafprozessordnung Fälle der notwendigen Verteidigung vor, etwa wenn es sich bei dem Tatvorwurf um ein Verbrechen handelt oder das Verfahren ein Berufsverbot zur Folge haben kann (§ 140 StPO). Verweigert man Betroffenen die anwaltliche Unterstützung, betrifft das die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats.

Das OVG SH scheint in seiner Entscheidung das Funktionieren des Rechtsstaats gleichzusetzen mit der Fähigkeit der Gerichte, Urteile zu fällen. Diese Sicht ist aber verkürzt, denn Wesen des Rechtsstaats ist es, dass Betroffene sich effektiv wehren können. Das gilt gleichermaßen für das Strafrecht, das Verwaltungsrecht und auch das Zivilrecht.

Recht auf Anwalt nach EMRK

Die Entscheidung der Schleswiger Richter verkennt zudem die Rechtslage nach der Europäischen Menschenrechtskonvention. Nicht bloß nach deutschen Gesetzen haben Betroffene das Recht auf anwaltlichen Beistand. Vielmehr ist dieses Recht auch aus Art. 6 EMRK herzuleiten (EGMR, Urt. v. 23.05.2019 – 51979/17). Die besseren Gründe sprechen daher dafür Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ebenfalls als „kritische Infrastruktur“ anzusehen, denn sie sind für den funktionierenden Rechtsstaat erforderlich.

OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12.05.2020 – 3 MB 25/20

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