Tausende Blitzer-Bußgeldbescheide rechtswidrig aufgrund fehlender Messdaten

Wer geblitzt wurde, hat oft nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, die Messung zu kontrollieren. Viele Gerichte versagen Betroffenen die Einsichtnahme in die Messdaten und verweisen stattdessen auf „anerkannte Messverfahren“. Hierdurch seien verlässliche Ergebnisse gewährleistet. Dass dabei der Rechtsschutz auf der Strecke bleibt, liegt auf der Hand.

Rohdaten nicht verfügbar

Das Dilemma ist, dass die meisten Blitzer Rohdaten gar nicht dauerhaft speichern. Eine Einsichtnahme ist daher nicht möglich. Für jemanden, der Bußgeld zahlen soll, Punkte in Flensburg kassiert und womöglich seinen Führerschein abgeben soll, ist das ein unerträglicher Zustand. Staatliche Entscheidungen mit hoher Eingriffsintensität müssen für Betroffene stets nachvollziehbar sein. Sind sie das nicht, darf ein Eingriff in Rechte nicht erfolgen. Konsequenterweise darf daher jemandem, der Rohdaten nicht einsehen darf, wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung kein Bußgeld auferlegt werden.

Diese rechtsstaatliche Linie wird bereits von einigen Untergerichten vertreten. Beispiel: Das Amtsgericht Zossen bejaht einen Anspruch auf Einsichtnahme in Messdaten.

VGH Saarland kritisiert Vorenthaltung von Messdaten

Nun scheint sich auch erstmals ein Verfassungsgericht der Auffassung anzuschließen, dass Betroffene Einsicht in Blitzer-Rohdaten zusteht. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes ließ erkennen, dass die derzeitige Praxis der Vorenthaltung von Blitzer-Messdaten rechtlich zu beanstanden ist.

Geklagt hatte ein Mann, der bei erlaubten 30 km/h 27 km/h zu schnell war und dafür 100 Euro Bußgeld zahlen sollte und einen Punkt in Flensburg auferlegt bekam. Verteidigen konnte sich der Mann nur sehr eingeschränkt, denn Einsicht in die Rohdaten erhielt er nicht. Das Blitzgerät, ein TraffiStar S 350 von Jenoptik, speichert nämlich die Rohdaten nicht. Nachdem der Mann bei den Bußgeldgerichten erfolglos blieb, wandte er sich an das saarländische Verfassungsgericht.

Zweifel an Vorenthaltung der Rohdaten

Die Saarländer Verfassungsrichter ließen in der mündlichen Verhandlung am 9. Mai 2019 erkennen, dass sie die gängige Praxis der Vorenthaltung der Blitzer-Rohdaten bezweifeln. Betroffene können sich nicht ausreichend gegen den Tatvorwurf wehren.

Unabhängige Sachverständige bestätigen zwar die Zuverlässigkeit der Blitzer, können aber nicht ausschließen, dass bei Messungen Fehler auftreten, die sich auf das Ergebnis auswirken. So ist es beispielsweise bei Autowaagen schon vorgekommen, dass in der Nähe befindliche Handys die Daten verfälschten. Dass solche Verfälschungen bei einer konkreten Messung nicht vorliegen, lässt sich nur anhand der Rohdaten ermitteln. Wenn Betroffene nicht die Gelegenheit erhalten, diese Rohdaten einzusehen, wird ihnen die Möglichkeit genommen, sich gegen den Tatvorwurf zu wehren.

Mit einem Urteil des saarländischen Verfassungsgerichts ist in der zweiten Jahreshälfte 2019 zu rechnen.

Viele Bußgeldescheide unrechtmäßig

Wenn sich die Rechtsauffassung des saarländischen Verfassungsgerichts durchsetzt, sind zahlreiche Bußgeldbescheide unrechtmäßig. Das Problem ist nämlich, dass eine Umstellung auf eine Technik, die alle Messdaten in nachvollziehbarer Weise speichert, den Ersatz der meisten in Betrieb befindlichen Blitzer erfordern würde. Das ist ein Vorgang, der wohl mehrere Jahre in Anspruch nimmt.

Signalwirkung für das gesamte Bundesgebiet

Ein klares Bekenntnis des saarländischen Gerichts zu einem Anspruch auf Einsichtnahme in die Rohdaten kann von anderen Gerichten und Bußgeldbehörden kaum ignoriert werden. Das gilt auch dann, wenn man den eingeschränkten regionalen Wirkungskreis der Entscheidung – nämlich das Saarland – in Betracht zieht. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Straf- oder Owi-Verurteilung sind in der gesamten Bundesrepublik gleich.

Bußgeldbescheid rechtskräftig?

Nach Ablauf der Einspruchsfrist werden auch rechtswidrige Bußgeldbescheide verbindlich. Wer von der Entscheidung profitieren möchte, sollte deshalb gegen den Bußgeldbescheid vorgehen und Akteneinsicht und Einsicht in die Messdaten bzw. Rohdaten verlangen. Sofern das Urteil des saarländischen Verfassungsgerichts während des laufenden Bußgeld- oder Gerichtsverfahrens ergeht, wäre das zu berücksichtigen.

Aufgrund der aufwändigen Umstellung könnten einige unsichere Jahre bevorstehen, in denen Geschwindigkeitsmessungen kaum Sinn machen, weil praktisch alle Bußgeldbescheide angreifbar sind. Verkehrspolitisch mag das zu beanstanden sein. Rechtsstaatlich ist das aber zu begrüßen.

Verfassungsgerichtshof des Saarlandes, Bericht über die mündliche Verhandlung auf spiegel-online vom 09.05.2019

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