Wie im herkömmlichen Verwaltungsrecht (§ 41 Absatz 2 VwVfG) existiert auch im Sozialrecht eine Regelung, nach der ein Bescheid mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post als zugegangen gilt (§ 37 Absatz 2 Satz 1 SGB X). Praktisch ist diese gesetzliche Fiktion von großer Bedeutung, denn ein Bescheid entfaltet nur dann Wirkungen, wenn er dem Empfänger zugegangen ist. Die Zugangsfiktion bedeutet eine praktische Erleichterung für die Verwaltung, denn sie darf, wenn sie den Bescheid zur Post gegeben hat davon ausgehen, dass er zugegangen ist. Wie es bei gesetzlichen Fiktionen regelmäßig der Fall ist, kann die gesetzliche Zugangsvermutung widerlegt werden.
Über die Voraussetzungen der Zugangsfiktion hatte das Landessozialgericht Berlin (LSG Berlin) zu entscheiden. Der aus Marokko stammende Antragsteller hatte Leistungen nach dem SGB II beantragt und bewilligt bekommen. Da Zweifel daran bestanden, ob er und seine Familienangehörigen sich in Deutschland aufhalten, hob das zuständige Jobcenter den Hartz 4 Bewilligungsbescheid auf. Der Antragsteller bestritt im Verfahren, den Aufhebungsbescheid erhalten zu haben. Das Sozialgericht Berlin behandelte den Bescheid als zugegangen. Diese Entscheidung wurde nun durch das LSG Berlin aufgehoben. Auf dem Bescheid befindet sich ein Stempel, auf dem durch Ankreuzen vermerkt werden kann, ob der Bescheid lokal oder zentral versendet oder persönlich übergeben worden ist. Dieser Stempel wies allerdings keine Eintragung auf. Daher kann – so das LSG Berlin – nicht ermittelt werden, ob der Bescheid zur Post gegeben worden ist. Wenn die Aufgabe zur Post nicht ermittelt werden kann, greift die Zugangsfiktion nicht. Vielmehr ist es dann Sache der Behörde, den Zugang nachzuweisen. Der Beschluss des Sozialgerichts war daher aufzuheben – der Antragsteller darf daher zunächst weiter die Grundsicherung beanspruchen.
Hintergrund: Die Entscheidung ist für den Hartz 4 Empfänger nur ein Etappensieg. Denn Behörden können solche Zustellungsfehler schnell korrigieren, indem sie einfach einen neuen Bescheid herausgeben und diesen mit einem ordnungsgemäß ausgefüllten Stempel versehen. Das ändert aber nichts daran, dass der Antragsteller im vorliegenden Verfahren erfolgreich war. Ein aufmerksames Aktenstudium kann solche Fehler zutage führen. Wenn ein Vermerk vorhanden gewesen wäre, wäre der Fall anders ausgegangen. Adressaten haben nämlich praktisch nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, den Nichtzugang nachzuweisen. Denn der Umstand, dass die gesetzliche Fiktion nicht zutrifft, also das Schreiben entgegen der Fiktion nicht zugegangen ist, ist nur in den wenigsten Fällen nachweisbar. Denn dem Adressaten wird der Nachweis einer negativen Tatsache abverlangt, was in den seltensten Fällen gelingt. Ergänzend zur Berechnung der Drei-Tages-Frist: Wirkung der Zugangsfiktion und Berechnung der Drei-Tage-Frist bei § 41 Absatz 2 VwVfG.
LSG Berlin, Beschluss vom 09.10.2017 – L 31 AS 1907/147 B ER
SG Berlin, Beschluss vom 08.09.2017 – S 193 AS 10952/17