Der Bundesgerichtshof (BGH) hat seine Rechtsprechung zu Aufopferungsansprüchen geändert und entschieden, dass diese Ansprüche nicht bloß Vermögensschäden, sondern auch Schmerzensgeldansprüche umfassen (Urt. v. 07.09.2017 – III ZR 71/17). Der Entscheidung lag ein Polizeieinsatz in Hessen zugrunde: Nachdem auf ein Döner-Restaurant ein Schuss abgegeben worden ist, führte die Polizei eine Fahndung nach den Tätern durch und entdeckte im Verkaufsraum einer Tankstelle Personen, auf die die Täterbeschreibung passte. Da die Polizisten damit rechnen mussten, dass die mutmaßlichen Täter bewaffnet sind, erfolgte ein massiver Zugriff. Mehrere Polizisten stürmten den Verkaufsraum, forderten die Tatverdächtigen auf, die Hände zu heben, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Einer der Verdächtigen erlitt dabei eine Schulterverletzung. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Verdächtigen mit der Sache nichts zu tun hatten. Der verletzte Tatverdächtige klagte auf Ersatz des erlittenen Vermögensschadens und auf Schmerzensgeld.
In den unteren Instanzen bekam der Kläger nur teilweise Recht. Sowohl Land- als auch Oberlandesgericht erkannten dem Kläger lediglich den Ersatz von Vermögensschäden zu – etwa für zerrissene Kleidung und beschädigte Sonnenbrillen. Der Anspruch stütze sich auf Aufopferung (§§ 74 f. Einleitung ALR), wonach der Staat auch demjenigen Schadensersatz zu zahlen hat, der von einer rechtmäßigen Handlung betroffen ist. So lag der Fall hier: die Polizei handelte zur Feststellung der Identität der Tatverdächtigen (§ 169b Absatz 1 StPO) und wandte unmittelbaren Zwang an, der angesichts der potenziellen Gefahrensituation polizeirechtlich nicht zu beanstanden war. Nach jahrzehntelanger einheitlicher Rechtsprechung fallen indessen unter Aufopferung lediglich Vermögensschäden. Dem Kläger blieb daher das begehrte Schmerzensgeld verwehrt.
Der BGH sah das anders und sprach dem Kläger auch Ersatz für immaterielle Schäden, d.h. Schmerzensgeld, zu. Mit seinem Urteil vom 07.09.2017 (III ZR 71/17) bricht der BGH mit einem gut 60 Jahre altem Dogma, wonach Aufopferungsansprüche nur den Ersatz von Vermögensschäden zulassen (Urt. v. 13.02.1956 – III ZR 175/54). Die Beschränkung auf Vermögensschäden stützte der BGH im Jahr 1956 auf eine Gesamtbetrachtung der damaligen Rechtsvorschriften, aus der sich ergab, dass der Ersatz immaterieller Schäden nicht geschuldet war, denn solche Ansprüche seien nur ausnahmsweise anzuerkennen, und zwar nur dann, wenn dies gesetzlich geregelt sei. Da für den Aufopferungsanspruch eine gesetzliche Regelung nicht existierte, kam für diesen der Ersatz immaterieller Schäden nicht in Betracht. An dieser Auffassung hält der BGH nicht mehr fest (III ZR 71/17): Der Gesetzgeber habe durch die Änderung von § 253 BGB klargestellt, dass bei einer Verletzung immaterieller Rechtsgüter die Ersatzpflicht nicht auf Vermögensschäden beschränkt sei (Gesetz vom 19.07.2002, BGBl. I, S. 2674). Dies decke sich mit anderen Gesetzesänderungen, die den Ersatz immaterieller Schäden für rechtmäßige hoheitliche Maßnahmen vorsehen, wie beispielsweise der Entschädigung für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen im Jahr 1971 und landesrechtlichen Vorschriften zum Ersatz immaterieller Schäden bei polizeilicher Maßnahmen.
Hintergrund: Wer von einem Polizeieinsatz betroffen ist, kann Ersatz für daraus entstehende Schäden verlangen. Das gilt auch dann, wenn der Einsatz rechtmäßig war. Rechtlich handelt es sich beim Aufopferungsanspruch, der einen Fall der Staatshaftung darstellt, um einen von der Rechtsprechung entwickelten gewohnheitsrechtlich anerkannten Anspruch, der aus §§ 74 und 75 der Einleitung der Allgemeinen Preußischen Landordnung abgeleitet wird. Der Rechtsgedanke dieser Vorschriften besagt, dass jemand, der sich für die Gemeinschaft ein Opfer erbringt, entschädigt werden soll.
§ 74 Einleitung ALR
Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen.
§ 75 Einleitung ALR
Dagegen ist der Staat denjenigen, welche seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.
Auf die Rechtsgedankten dieser antiken Gesetze wird zurückgegriffen, weil es in Deutschland kein kodifiziertes Staatshaftungsrecht in Gestalt eines Bundesgesetzes gibt. Dass Betroffene von rechtmäßigen Polizeieinsätzen Schadensersatz verlangen können, ist nicht neu. Neu ist, dass nicht bloß der Vermögensschaden, sondern der immaterielle Schaden, also auch Schmerzensgeld, verlangt werden kann.
Die Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen: Lehrbücher müssen neu geschrieben werden und Jurastudenten müssen sich darauf einstellen, dass die Entscheidung in der mündlichen Prüfung abgefragt wird. Praktisch ist die Entscheidung aber auch von großer Bedeutung, denn sie dehnt die Staatshaftung erheblich aus und kann unter Umständen zu einer großen Mehrbelastung öffentlicher Haushalte führen. Denn bislang hielten sich Ansprüche nach Polizeieinsätzen in Grenzen, da Schadensersatz nur dann zu zahlen war, wenn etwas zu Bruch gegangen ist. Wer indessen bei einem rechtmäßigen so genannten robusten Polizeieinsatz „bloß“ Schmerzen erlitten hat, ging regelmäßig leer aus. Das ist jetzt anders. Die Polizei muss sich nun darauf einstellen, dass sich die Ersatzpflicht beispielsweise bei der rechtmäßigen Einkesselung von Demonstranten vervielfacht: Fortan kann jeder Betroffene, der der zwangsweise über eine längere Zeit stehen und frieren muss oder Platzangst bekommt, Ersatz für immaterielle Schäden verlangen. Dasselbe gilt, wenn ein Polizist den Arm umdreht oder jemand beim zu Boden bringen Schmerzen erleidet.
Die Ausdehnung der Ersatzpflicht ist zu begrüßen, denn die Vereinheitlichung stärkt die Rechte derjenigen, die unverschuldet Opfer von Polizeieinsätzen geworden sind und dadurch Schmerzen erleiden mussten. Die Entscheidung zeigt einmal mehr, dass ein einheitliches Staatshaftungsrecht dem richterrechtlichen Gewohnheitsrecht vorzuziehen wäre, denn in einem Rechtsstaat sollte es der Gesetzgeber sein, der die Gesetze macht und nicht die Richterschaft. Mit dem Rechtsgefühl ist es schwer zu vereinbaren, dass Aufopferungsfälle seit 2002 durch Gerichte falsch entschieden worden sind, weil seitdem ein geänderter § 253 BGB galt aber noch niemand etwas vom Sinneswandel des BGH im Jahr 2017 ahnen konnte. Für rechtskräftig entschiedene Altfälle gibt es keine Möglichkeit, nachträglich noch Schmerzensgeldansprüche durchzusetzen. Bei Fällen, die noch nicht rechtskräftig entschieden worden sind, können Betroffene aber noch nachträglich Schmerzensgeld geltend machen. Umfasst sind all jene Fälle, in denen die Verjährung noch nicht eingetreten ist.
Für Schmerzensgeldansprüche aus Aufopferung gelten die allgemeinen Verjährungsregelungen nach §§ 195 BGB entsprechend. Grundsätzlich gilt danach für Ansprüche aufgrund der Verletzung des Körpers, der Gesundheit und der Freiheit eine dreijährige Verjährung, die mit Kenntnis von Tat und Täter zu laufen beginnt (§ 199 Absatz 1 BGB), und eine Höchstfrist von 30 Jahren ab der Tat (§ 199 Absatz 2 BGB). Für Streit unter Juristen sorgt oft die Behandlung von Fällen, in denen der Verletzte aufgrund eines Rechtsirrtums keine Kenntnis von seinem Anspruch hatte. Hier kann nämlich vertreten werden, dass der Irrtum über den Anspruch nach dem Prinzip „Dummheit schützt vor Strafe nicht“ irrelevant ist und der Anspruch bereits dann zu verjähren beginnt, wenn der Verletzte die anspruchsbegründenden Umstände kennt. Davon abweichend wird dem Verletzten aber in Fällen geänderter Rechtsprechung die Kenntnis erst ab dem Datum der geänderten Rechtsprechung zugerechnet (vgl. BGH, Urteil vom 28.10.2014 – XI ZR 348/13). Das bedeutet, dass gute Aussichten für die Durchsetzung von Schmerzensgeldansprüchen aus Aufopferung bestehen, über die noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist und die nach Inkrafttreten des überarbeiteten § 253 BGB im Jahr 2002 entstanden sind. Kein Hindernis ist dabei übrigens, wenn der Verletzte nicht mehr lebt, denn Schmerzensgeldansprüche können auch von Erben geltend gemacht werden (§ 1922 Absatz 1 BGB).
BGH, Urteil vom 07.09.2017 – III ZR 71/17
OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 26.01.2017 – 1 U 31/15
LG Wiesbaden, Urteil vom 26.11.2014 – 5 O 109/13