Überraschungsurteil stellt nur dann einen rügefähigen Verstoß gegen rechtliches Gehör dar, wenn das Urteil auf dem unterbliebenen Gehör beruht (BVerfG, Beschl. v. 07.02.2018 – 2 BvR 549/17)

Die verfassungsrechtlich garantierte Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Absatz 1 GG ist nur dann verletzt, wenn die Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs ursächlich für die zum Nachteil des Betroffenen gefällte Entscheidung war.

Das Oberlandesgericht (OLG) Dresden setzte dem Berufungskläger eine Stellungnahmefrist. Vor Ablauf dieser Frist und bevor der Berufungskläger sich zur Sache äußern konnte, wies das OLG die Berufung zurück. Die Anwälte des Berufungsklägers sahen darin einen Verstoß gegen Art. 103 Absatz 1 GG und erhoben Verfassungsbeschwerde. Ohne Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Zwar liege darin, dass das OLG vor Ablauf der selbst gesetzten Stellungnahmefrist entschieden hat, ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör. Jedoch beruhte die Entscheidung nicht auf dieser Verletzung. Das rechtliche Gehör nach Art. 103 Absatz 1 GG bezweckt, dass der Einzelne zu Wort kommen kann und sein Vorbringen von den Gerichten zur Kenntnis genommen wird. In diesem Kontext steht auch das Verbot von Überraschungsentscheidungen. Grundsätzlich gebietet Art. 103 Absatz 1 GG, dass Gerichte den Ablauf gesetzlicher oder selbst gesetzter Fristen abwarten. Sofern ein innerhalb einer solchen Frist gemachtes Vorbringen nicht berücksichtigt wird, liegt darin ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör. Die Rüge eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör hat aber nur dann Erfolg, wenn nicht auszuschließen ist, dass bei Berücksichtigung des in der Frist gemachten Vorbringens eine andere – für den Beschwerdeführer günstigere – Entscheidung ergangen wäre. Diese Voraussetzungen lagen im entschiedenen Fall nicht vor. Vielmehr wäre das OLG bei Würdigung des Vorbringens zu demselben Ergebnis gelangt. Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde deshalb nicht zur Entscheidung an.

Hintergrund: Jurastudenten lernen im ersten Semester, dass das Bundesverfassungsgericht keine Superrevisionsinstanz ist. Damit ist gemeint, dass das BVerfG nicht die „letzte“ Instanz darstellt, sondern dass das Prüfungspensum des Verfassungsgerichts auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt ist. Hiervon scheint die Entscheidung abzuweichen, denn sie bejaht einerseits die Verletzung von Art. 103 Absatz 1 GG, um andererseits zivilrechtlich und zivilprozessual zu begründen, dass das Urteil nicht auf dem Verstoß beruht. Die Prüfung von Zivil- und Zivilprozessrecht, die eigentlich nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, stellt aber nur auf den ersten Blick eine Abweichung dar. Denn bei dem vorgestellten Beschluss handelt es sich um einen so genannten Nichtannahmebeschluss. Das Gericht entscheidet daher gar nicht in der Sache.

Das rechtliche Gehör gemäß Art. 103 Absatz 1 GG existiert nicht zum Selbstzweck. Gerügt werden kann ein Verstoß vielmehr nur dann, wenn sich dadurch die Position des Beschwerdeführers verbessert. Daran fehlt es, wenn eine Entscheidung ohne den Verstoß ebenso ausgefallen wäre. Beschwerdeführer können sich bei der Verfassungsbeschwerde daher nicht allein darauf stützen, dass ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör vorliegt. Sie müssen vielmehr auch darlegen, dass ohne den Verstoß eine für sie günstigere Entscheidung hätte ergehen können. Dieses Erfordernis ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht neu.

BVerfG, Beschluss vom 07.02.2018 – 2 BvR 549/17

OLG Dresden, Beschluss vom 06.02.2017 – 9 U 819/16, Beschluss vom 15.11.2016 – 9 U 819/16, Beschluss vom 27.10.2016 – 9 U 819/16

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