Beitragsbescheide für Abwasser aufgehoben wegen nichtiger Abwassersatzung (OVG Greifswald, Urteil vom 05.01.2018)

Das Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern (OVG M-V) hat mit Urteil vom 05.01.2018 mehrere Beitragsbescheide des Wasserbeschaffungsverbandes Sude-Schaale, der Teil des vormaligen Kreises Hagenow ist, aufgehoben. Die Kläger beanstandeten die Abwassersatzung, welche die Rechtsgrundlage für die Bescheide war. Darin seien die Grundstücksflächen, die für die Bemessung der auf die Anlieger umzulegenden Herstellungskosten relevant sind, systematisch zugunsten gewerblicher Wasserverbraucher kleingerechnet worden. So sei für das Gewerbegebiet Valluhn/Gallin nicht die höchstzulässige Geschosszahl berücksichtigt worden, sondern ein kleinerer Wert. Dadurch seien die für das Gewerbegebiet zu berücksichtigende Fläche um rund ein Viertel reduziert worden und dementsprechend höher seien die Beitragsbescheide für die übrigen Betroffenen ausgefallen. Nach erfolgloser Durchführung von Widerspruchsverfahren erhoben einige Betroffene Klage, zunächst erfolglos beim Verwaltungsgericht Schwerin. Die dagegen erhobene Berufung zum OVG M-V hatte allerdings Erfolg. Das OVG urteilte, dass die Abwasserbeitragssatzung erhebliche methodische Fehler aufweise und deshalb nichtig sei. Eine nichtige Satzung kann nicht Grundlage für Betragsbescheide sein, die dementsprechend aufzuheben waren.

Hintergrund: Öffentlich-rechtliche Beitragsbescheide für Ver- und Entsorgungsleistungen treten häufig auf. Oft scheuen betroffene Eigentümer aber die Auseinandersetzung, da die Beschreitung des Rechtswegs langwierig ist. So auch in den vom OVG M-V entschiedenen Fällen: Die am 05.01.2018 gefällte Entscheidung bezieht sich auf Beitragsbescheide aus dem Jahr 2008. Da die gegen die Bescheide erhobenen Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung entfaltet haben, waren die Betroffenen formal zur Zahlung verpflichtet (§ 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 VwGO). Das bedeutet, dass gegen die Bescheide rechtlich vorgegangen werden kann, aber trotzdem zu zahlen ist. Wenn sich die Bescheide als rechtswidrig erweisen, erhalten die Betroffenen den Betrag selbstverständlich zurück.

Bei den über den Verband der deutschen Grundstücksnutzer (VDGN) organisierten Klagen handelte es sich aber – entgegen dessen Darstellung – nicht um Musterverfahren. Musterverfahren gibt es im deutschen Recht bislang nur im Kapitalanlagerecht (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – KapMuG). Im Übrigen bleibt es dabei, dass Streitigkeiten individuell zu entscheiden sind – so auch bei Anfechtungsklagen gegen Beitragsbescheide. Es ist daher festzuhalten, dass ein „Muster“ allenfalls nach der Auffassung des VDGN vorliegt, indem die Rechtslage auf andere Betroffene übertragbar ist. Mit verbindlicher Wirkung steht das aber nicht fest, vielmehr muss das erst durch ein Gericht oder eine Behörde entschieden werden.

Falsch ist auch die Behauptung des Verbands, das OVG Greifswald habe die Abwassergebührensatzung für nichtig erklärt. Richtig ist, dass das OVG M-V die Bescheide aufgehoben hat, weil die Satzung nichtig ist. Das ist rechtlich ein Unterschied. Denn das Gericht hat in einem Anfechtungsverfahren überhaupt nicht die Befugnis, die Nichtigkeit einer Norm festzustellen. Das ist dem Normenkontrollverfahren (§ 47 VwGO) vorbehalten. Der Unterschied zwischen der Nichtigerklärung im Normenkontrollverfahren und der Aufhebung eines Bescheids in einem Anfechtungsverfahren liegt darin, dass die Entscheidung bei der Normenkontrolle das Schicksal der Norm insgesamt betrifft – inter omnes, also allen gegenüber -, wohingegen die Anfechtungsklage stets nur die am Verfahren Beteiligten bindet – sie wirkt daher nur inter partes, also nur gegenüber den Parteien.

Zu guter letzt ist auch die vom VDGN verbreitete Äußerung „Beitragsbescheide nichtig“ zu beanstanden, denn die Bescheide sind gar nicht nichtig, sondern lediglich rechtswidrig. Nichtigkeitsgründe gemäß § 44 VwVfG sind nicht ersichtlich.

Die Kritik am Verband darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier mit lobenswerter Akribie und Hartnäckigkeit gearbeitet worden ist.

Die Auswirkungen der OVG-Entscheidung hängen von den Umständen des Einzelfalls ab:

Für die Parteien des beim OVG entschiedenen Streits ist die Sache klar. Die Bescheide wurden aufgehoben. Die Betroffenen erhalten Zuvielzahlungen zurück.

Die noch beim VG Schwerin anhängigen Verfahren müssten erst einmal entschieden werden. Da die Abwassergebührensatzung nicht mit inter omnes Wirkung für nichtig erklärt worden ist, gilt sie formal weiter. Allerdings steht den Verwaltungsgerichten für unter dem Landesgesetz stehende Rechtsnormen – und um eine solche handelt es sich bei der Satzung – eine Normverwerfungskompetenz zu. Zwar ist das VG Schwerin formal nicht an die OVG-Entscheidung gebunden. Es ist aber davon auszugehen, dass sich das VG Schwerin der Rechtauffassung des OVG anschließt und bei der Inzidentprüfung der Satzung zu dem Ergebnis gelangt, dass diese nichtig ist. Sollte das VG Schwerin das anders sehen, würde eine Berufung zum OVG M-V gute Aussichten auf Erfolg haben, denn es ist nicht davon auszugehen, dass das OVG seien Auffassung zur Rechtswidrigkeit der Satzung ändert.

Hiervon zu unterscheiden ist die Rechtslage bei denjenigen Betroffenen, die gegen die Beitragsbescheide keinen Widerspruch erhoben haben. Die Bescheide sind unanfechtbar geworden, sodass eine Anfechtungsklage nicht mehr in Betracht kommt. Ganz aussichtslos ist die Sache aber auch bei diesen Betroffenen nicht, denn es besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG zu stellen. Betroffene können danach die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts verlangen, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Absatz 1 Nummer 1 VwVfG). Dafür gilt eine Frist von drei Monaten ab Kenntnis der Wiederaufnahmegründe (§ 51 Absatz 3 VwVfG).

OVG Greifswald, Urteil vom 05.01.2018 – n.n.

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