Nahezu regelmäßig werden Gerichte mit der Frage konfrontiert, welche Einnahmen auf Hartz4-Leistungen anzurechnen sind. Eine Hartz4-Bezieherin erhielt als Kellnerin Trinkgeld in Höhe von monatlich 25 Euro. Das Jobcenter rechnete die Trinkgeldeinnahmen auf die Leistungen nach SGB II an. Hiergegen klagte die Hartz4-Empfängerin. Ohne Erfolg.
Das Sozialgericht Landshut urteilte, dass das Trinkgeld eine bei der Berechnung der Zuwendungen zu berücksichtigende Einnahme darstellt. Konkret ging es um die Frage, ob die Voraussetzungen von § 11a Absatz 5 SGB II vorlagen. Danach bleibt die Anrechnung von Zuwendungen außer Betracht, die freiwillig und ohne Rechtspflicht gezahlt werden, wenn die Anrechnung für den Leistungsberechtigten grob unbillig wäre. Bei Trinkgeldern handelt es sich um freiwillige Leistungen. Nach Auffassung des Sozialgerichts Landshut ist die Berücksichtigung von Trinkgeld nicht grob unbillig. Das Gericht vertritt damit eine andere Auffassung als das Sozialgericht Karlsruhe, das in einer früheren Entscheidung die Berücksichtigung von Trinkgeld ablehnte (SG Karlsruhe, Urteil vom 30. März 2016 – S 4 AS 2297/15). Nach Auffassung des Sozialgerichts Landshut handelt es sich bei Trinkgeld um Arbeitslohn. Dazu zählen alle Vorteile, die jemand für seine Beschäftigung erhält (§ 19 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 EStG), was voraussetzt, dass der Empfänger die Zuwendung als Frucht seiner Arbeit im Zusammenhang mit dem Dienstverhältnis erhält. Der Umstand, dass Trinkgeld steuerfrei ist (§ 3 Nummer 51 EStG), spreche nicht gegen eine Berücksichtigung bei Zuwendungen nach SGB II, denn die Steuerbefreiung diene in erster Linie der Entlastung des Niedriglohnsektors und der Vereinfachung der Besteuerung. Die Berücksichtigung des Trinkgelds als Arbeitseinkommen ist nach Auffassung des Sozialgerichts Landshut auch nicht grob unbillig. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall: Das Trinkgeld werde vielmehr aufgewertet durch den Umstand, dass der Empfänger ohne oder mit weniger staatlicher Hilfe seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Gegen eine grobe Unbilligkeit spricht auch der Umstand, dass bei der Anrechnung die Erwerbstätigenfreibeträge anzuwenden sind (§ 11b SGB II). Danach findet eine Anrechnung – je nach Höhe der zusätzlichen Einnahmen – nur teilweise statt, sodass dem Empfänger regelmäßig 10% bis 100% des Trinkgelds verbleiben.
Hintergrund: Das letzte Wort in Sachen Anrechnung von Trinkgeld ist noch nicht gesprochen, denn das Sozialgericht Landshut hat die Berufung zugelassen. Es ist daher damit zu rechnen, dass die Klägerin Berufung einlegen und das bayrische Landessozialgericht – zumindest in Bayern – für Klarheit sorgen wird. Unmittelbare Auswirkungen hat die Entscheidung zunächst einmal nur für die Parteien des Rechtsstreits. Gleichwohl nehmen Jobcenter Gerichtsentscheidungen regelmäßig zum Anlass, das praktische Vorgehen an die Rechtsauffassung der Gerichte anzupassen. Solange noch keine höchstrichterliche Entscheidung des Bundessozialgerichts existiert, wird dies zunächst einmal auf den Einzugsbereich des SG Landshut zutreffen. Aber auch das ist nicht zwingend. Denn die Jobcenter sind von Verfassungs wegen an Recht und Gesetz gebunden und können die Gesetze durchaus der gegenteiligen Auffassung des Sozialgerichts Karlsruhe folgend anwenden und von der Berücksichtigung des Trinkgelds absehen. Erst wenn das Landessozialgericht in Bayern dieser Praxis widerspricht, macht es keinen Sinn, davon abweichend zu entscheiden, da Bescheide ohnehin bei Gerichten aufgehoben werden würden. Das gilt entsprechend, wenn eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vorliegt, für das gesamte Bundesgebiet. Angesichts der erheblichen Bedeutung der Rechtsfrage, ob Trinkgeld zu berücksichtigen ist, wird das Landessozialgericht München voraussichtlich die Revision zum BSG zulassen. Bis dahin müssen Kellnerinnen und Kellner, die zugleich Hartz4 beziehen, mit der unklaren Rechtslage leben. Dass Kellner in Deutschland dadurch unterschiedlich viel Geld verdienen, ist ein unschöner Nebeneffekt. Betroffene sollten vorsorglich Widerspruch einlegen. Die Entscheidung des Landessozialgerichts kann schwer vorhergesagt werden. Im Kern wird es um die Frage der „groben Unbilligkeit“ gehen, die das SG Landshut unter Hinweis auf die Erwerbstätigenfreibeträge (§ 11b SGB II) verneint hat. Das erscheint durchaus plausibel. Das Argument, dass an Hartz4-Empfänger gezahlte Trinkgelder durch die Anrechnung aufgewertet werde, weil der Empfänger nicht oder in geringerem Umfang auf staatliche Hilfe angewiesen sei, mutet hingegen fast zynisch an. Das Gericht verkennt, dass dieses Verständnis der „Aufwertung“ aus Sicht des Empfängers keineswegs einen Vorteil bewirkt, sondern, dass er weniger Geld in der Tasche hat. Ohnehin wird die Rechtsauffassung des Landshuter Gerichts in der Praxis auf große Probleme stoßen. Denn es wird sich regelmäßig kaum zuverlässig ermitteln lassen, wie viel Trinkgeld gezahlt wurde, sodass voraussichtlich die Ehrlichen die Dummen sein werden. Die Jobcenter werden in vielen Fällen auf Schätzungen angewiesen sein. Schätzungen sind aber nur dann rechtens, wenn sie rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, was wiederum einen erheblichen Verwaltungsaufwand erzeugen würde. Konsequent wäre es daher, Trinkgeld – wie dies bei der Steuer der Fall ist (§ 3 Nummer 51 EStG) – komplett außen vor zu lassen.
SG Landshut, Urteil vom 27.09.2017 – S 11 AS 261/16