Das Oberverwaltungsgericht M-V (OVG Greifswald) hatte über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zu entscheiden, in dem ein Zirkusbetreiber gegen die Entscheidung der Stadt Schwerin vorging, mit der die Benutzung kommunaler Flächen für Zwecke der Werbung untersagt worden ist für Zirkusse, die wildlebende Tierarten mit sich führen, wie Affen, Bären, Elefanten, Giraffen, Greifvögel, Raubkatzen und Zebras (OVG Greifswald, Beschluss vom 29.09.2016 – 1 M 435/16). Zur Begründung führte die Stadt aus, dass ein Auftritt ohne Wildtiere sicherlich möglich wäre. Hiergegen wandte sich der Zirkusbetreiber mit einem Antrag gemäß § 123 VwGO, mit dem er begehrte, ihm die Werbung zu ermöglichen. Das Verwaltungsgericht Schwerin wies den Antrag zurück. Nach § 22 Absatz 1 StrWG M-V bestehe kein unbedingter Rechtsanspruch auf Ermöglichung einer Sondernutzung.
Hintergrund: Öffentliche Straßen und Wege unterliegen dem so genannten Gemeingebrauch. Das bedeutet, dass jeder diese in normalem Umfang nutzen darf. Maßgeblich für den Nutzungsumfang ist die Widmung des Weges bzw. der Straße. Normal in diesem Sinne ist beispielsweise die Benutzung eines Gehwegs durch Fußgänger. Sofern der normale Umfang überschritten wird, was beispielsweise bei der Aufstellung eines Verkaufsstandes in der Fußgängerzone der Fall ist, bedarf es einer Sondernutzungserlaubnis. Die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis richtet sich in Mecklenburg-Vorpommern nach § 22 Absatz 1 StWG M-V in Verbindung mit der jeweiligen Sondernutzungssatzung der Gemeinde.
Das VG Schwerin gelangte zu dem Ergebnis, dass § 22 Absatz 1 StrWG M-V Ermessen eröffne. Ermessensfehler seien nicht erkennbar. Damit fehlte es an dem Anordnungsgrund und der Antrag war zurückzuweisen. Gegen diese Entscheidung erhob der Zirkusbetreiber eine Beschwerde zum OVG Greifswald. Mit Erfolg: Das OVG Greifswald entschied, dass die Zurückweisung rechtswidrig war. Zwar eröffne die Regelung des § 22 Absatz 1 StrWG M-V Ermessen, dieses könne indessen nicht frei ausgeübt werden, sondern nur nach Maßgabe straßenrechtlicher Erwägungen (z. B. betreffend die Leichtigkeit des Verkehrs, die Aufrechterhaltung des Gemeingebrauchs). Die Versagung der Erlaubnis erfolgte hier indessen nicht aus straßenrechtlichen Gründen, sondern weil die Stadt Auftritte mit Wildtieren untersagen möchte. Aus diesem Grund sei die Versagung der straßenrechtlichen Sondererlaubnis rechtswidrig. Das Gericht kann der Stadt aber nur dann die Erteilung der Genehmigung aufgeben, wenn sich die Ermessen auf null reduziert hat. Von diesem Grundsatz hat das OVG Greifswald hier eine Ausnahme zugelassen. Das ist rechtlich in zweierlei Hinsicht interessant: In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gilt das Prinzip des Verbots der Vorwegnahme der Hauptsache. Das bedeutet, dass der Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutz grundsätzlich nicht verlangen kann, was Gegenstand der Hauptsache ist. Außerdem gilt der Grundsatz, dass das Gericht nicht über das hinausgehen darf, was der Kläger mit der Hauptsacheentscheidung erreichen kann. Von beiden Prinzipien hat das OVG Greifswald hier eine Ausnahme zugelassen. Das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache sei dann nicht anzuwenden, wenn ein Zuwarten bis zur Entscheidung der Hauptsache Rechte des Antragstellers unwiderbringlich verletzen würde. Bemerkenswert an der Entscheidung ist, dass das Gericht darüber hinaus auch über das hinausgegangen ist, was der Zirkusbetreiber in der Hauptsache hätte erreichen können. Da § 22 Absatz 1 StrWG M-V Ermessen eröffnet und eine Reduzierung des Ermessens auf null nicht erkennbar ist, könnte der Antragsteller in einem Hauptsacheverfahren nur ein Bescheidungsurteil erreichen. Gleichwohl hat das OVG die Stadt Schwerin hier dazu verpflichtet, die Werbung zu erlauben. Dass der Behörde damit die Vornahme einer eigenen Ermessensentscheidung genommen wird, hält das Gericht für gerechtfertigt, weil sie Gründe für die Versagung nicht benannt habe. Vielmehr sei in dem Fall davon auszugehen, so führt das OVG Greifwald unter Bezugnahme auf BVerwG, Beschluss vom 16.08.1978 – 1 WB 112/78 aus, dass sich der Anspruch ermessensfehlerfreie Entscheidung hier ausnahmsweise zu einem Anspruch auf Erlass des Verwaltungsakts verdichtet habe.
Die Herleitung ist rechtlich durchaus vertretbar, hätte aber im Hinblick auf die Gewaltenteilung eine ausführlichere Begründung verdient. Denn Rechsprechung und Verwaltung sind kraft Verfassung getrennt (Art. 20 Absatz 2 Satz 2 GG). Das bedeutet, dass die Rechtsprechung ihre Aufgaben getrennt von den Aufgaben der Verwaltung wahrnimmt. Wenn ein Gericht daher die der Behörde zustehende Ermessensausübung an sich zieht und ersetzt, was im Verwaltungsrecht oft vorkommt, hat das mit Zurückhaltung zu geschehen. Vor dem Hintergrund der dem Gericht zustehenden weit reichenden Gestaltungsfreiheit in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (§ 123 Absatz 3 VwGO, § 938 Absatz 1 ZPO), ist die Entscheidung aber nicht zu beanstanden.
OVG Greifswald, Beschluss vom 29.09.2016 – 1 M 435/16
VG Schwerin, Beschluss vom 26.09.2016 – 7 B 2677/16