Nachbarn können sich mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung gegen Bauvorhaben auf angrenzenden Flächen wenden, wenn ihre Rechte durch das Vorhaben verletzt werden. Eine Rechtsverletzung kann in der Nichteinhaltung der Abstandsflächen bzw. Grenzabstandsflächen oder einer erdrückenden Wirkung liegen oder darin, dass mit dem Vorhaben ein unzumutbarer zusätzlicher Fahrzeugverkehr, Lärm oder Personenverkehr einhergeht.
In dieser Konstellation ist der Nachbar so genannter Drittbetroffener, der von einem Verwaltungsakt (Baugenehmigung), der einen anderen begünstigt, betroffen ist. Dem Nachbarn stehen gegen diesen Verwaltungsakt – die Baugenehmigung – die Rechtsbehelfe des Widerspruchs und der Anfechtungsklage zur Verfügung. Die diesen Rechtsbehelfen grundsätzlich zukommende aufschiebende Wirkung (§ 80 Absatz 1 VwGO) entfällt allerdings bei Baugenehmigungen (§ 212a Absatz 1 BauGB). Das bedeutet, dass die Genehmigung trotz Widerspruch und Anfechtungsklage vollziehbar bleibt und der Bauherr legal weiterbauen darf (§ 80 Absatz 2 Satz 1 Nummer 3 VwGO). Baut der Bauherr weiter, geht er allerdings das Risiko ein, dass das Bauvorhaben im Falle einer für ihn nachteiligen Entscheidung im Widerspruchsverfahren bzw. vor Gericht wieder abgerissen werden muss. Dieses Risiko nehmen Bauherrn häufig in Kauf. Nachbarn, die sich auf die Erhebung eines Widerspruchs und eine Anfechtungsklage verlassen, stehen aufgrund der bis zu sechs Jahre dauernden Verfahren oft vor vollendeten Tatsachen.
Möchte ein Nachbar vollendete Tatsachen verhindern, kann er bei der Genehmigungsbehörde und bei Gericht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage beantragen (§ 80a VwGO). Mit einem solchen Antrag kann erreicht werden, dass entgegen der gesetzlich vorgesehenen Vollziehbarkeit (vgl. § 212a BauGB) der Widerspruch und die Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung entfalten. Dieses Verfahren wird prozessual im einstweiligen Rechtsschutz behandelt, sodass Nachbarn schneller zu ihrem Recht kommen und die Schaffung vollendeter Tatsachen verhindern können.
Wer gegen ein benachbartes Bauvorhaben vorgehen möchte, sollte sich aber beeilen, denn in der Rechtsprechung wird als Grenze der Zulässigkeit für einen solchen Antrag grundsätzlich die Fertigstellung des Rohbaus gesehen. Ein Antrag nach §§ 80a, 80 Absatz 5 VwGO), der erst nach Fertigstellung des Rohbaus gestellt wird, wird regelmäßig als unzulässig abgewiesen. Die Rechtsprechung spricht Antragstellerin in solchen Fällen das Rechtsschutzbedürfnis ab, da sie mit ihrem Antrag vollendete Tatsachen gar nicht mehr verhindern könnten (VG SH, Beschluss vom 13.11.2017 – 2 B 53/17). Dieser Überlegung liegt zugrunde, dass vollendete Tatsachen durch die Fertigstellung des Rohbaus bereits vorliegen. Der Nachbar könne daher auf die Anfechtungsklage verwiesen werden.
Das Rechtsschutzbedürfnis fällt aber nicht zwingend mit Fertigstellung des Rohbaus weg. Denn ebenso wenig wie ein Bauvorhaben nur aus dem Rohbau besteht, werden Beeinträchtigungen für Nachbarn nur vom Rohbau ausgelöst. Zwar mag das für Abstandsflächenverstöße oder die erdrückende Wirkung zutreffen, nicht aber für Beeinträchtigungen, die erst mit der Fertigstellung des Vorhabens einhergehen. So gehen beispielsweise von einer Autowaschanlage im Rohbau praktisch keine beeinträchtigenden Auswirkungen aus, wohl aber wenn sie fertig gestellt ist. Ebenso verhält es sich mit Hotels, Casinos oder Supermärkten. Solchen Vorhaben ist gemeinsam, dass erst die Nutzung zu unzumutbaren Beeinträchtigungen führt. Dem Nachbarn das Rechtsschutzbedürfnis abzusprechen, wenn der Rohbau fertiggestellt ist, wird dem Interesse des Nachbarn nicht gerecht, dass dieser von den nachteiligen Auswirkungen einer Genehmigung verschont bleibt, die über den Rohbau hinaus gehen. Eine starre „Rohbau“-Grenze würde auch dem Prinzip zuwiderlaufen, dass eine Baugenehmigung nach dem in Deutschland geltenden Baurecht nicht für ein Bauwerk erteilt wird, sondern für ein Bauwerk nebst Nutzung. Deshalb dürfen die von der Nutzung ausgehenden Beeinträchtigungen bei Anträgen nach § 80a VwGO nicht außer Betracht bleiben. Das Erfordernis, die Stellung eines Antrags nach § 80a VwGO an eine zeitliche Grenze zu knüpfen, ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Die Grenze der Fertigstellung des Rohbaus ist aber aus den vorgenannten Gründen ungeeignet. Eine Grenze könnte durch die Anwendung des aus dem Zivilprozessrecht stammenden Prinzips der Selbstwiderlegung der Eilbedürftigkeit gesetzt werden. Dieses Prinzip hat zum Gegenstand, dass derjenige, der zu lange mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wartet, zu erkennen gibt, dass ihm die Sache gar nicht eilig ist.
Gerichte wenden die Grenze der Fertigstellung des Rohbaus zuweilen auch ohne eine Differenzierung danach an, ob die Beanstandungen an den Baukörper oder die spätere Nutzung anknüpfen. Wer sicher gehen will, sollte also einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nach §§ 80a, 80 Absatz 5 VwGO nicht erst dann stellen, wenn der Rohbau fertig ist. Ein solcher Antrag sollte daher spätestens dann gestellt werden, wenn Bauarbeiten zu erkennen sind.
Oft erlangen Nachbarn erst durch den Beginn von Bauarbeiten Kenntnis davon, dass auf dem Nachbargrundstück ein neues Bauvorhaben entsteht. Praktisch stellt sich die Frage, wie Nachbarn an die notwendigen Informationen gelangen können, die sie für ein Vorgehen gegen die Baugenehmigung benötigen. Ein Antrag bei Gericht setzt nämlich voraus, dass die Baugenehmigung, gegen die sich der Nachbar wendet, benannt wird. Außerdem muss der Nachbar die drohenden Beeinträchtigungen und Rechtsverletzungen bezeichnen, denn nur rechtswidrige Beeinträchtigungen berechtigen ihn zur Abwehr.
Der Beginn der Bauarbeiten lässt regelmäßig keinen Rückschluss darauf zu, was dort entstehen soll bzw. wie viele Stockwerke ein Gebäude nach Fertigstellung haben wird. Wartet der Nachbar ab, bis keine Stockwerke mehr hinzukommen, ist es für einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung bereits zu spät.
Nachbarn sind daher gut beraten, schnellstmöglich nachdem sie Kenntnis von Bautätigkeiten erlangen, bei dem örtlichen Bauamt oder bei der Gemeinde nachzufragen, was dort entstehen soll und um Überreichung einer Kopie der Baugenehmigung zu bitten. Informationen über das Bauvorhaben sind zudem dem an der Baustelle auszuhängenden Baustellenschild zu entnehmen. Bauherrn sind verpflichtet, dieses öffentlich einsehbar auszuhängen.
Das Rechtsschutzbedürfnis stellt eine in jeder Lage des Verfahrens zu prüfende Prozessvoraussetzung dar. Das bedeutet, dass diese Voraussetzung auch während eines laufenden Gerichtsverfahrens wegfallen kann (vgl. OVG Sachsen, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 B 231/11).
Das gilt das auch dann, wenn der Rohbau nach Anhängigwerden eines Antrags nach §§ 80a, 80 Absatz 5 VwGO fertig gestellt wird, weil der Bauherr das Vorhaben weiterbaut und den Rohbau fertig stellt, bevor das Gericht über den Antrag entschieden hat. Der Bauherr hat es daher in der Hand, durch eine zügige Fertigstellung des Rohbaus den Antrag unzulässig zu machen und den Nachbarn damit auf das langwierige Hauptsacheverfahren zu verweisen. Dem Bauherrn kann das Weiterbauen nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn solange die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage noch nicht angeordnet worden ist, darf er legal von der Genehmigung Gebrauch machen.
Praktisch kann das Gericht durch Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung die Fortsetzung der Bauarbeiten untersagen. Ein solcher Hängebeschluss hat zum Gegenstand, dass der Bauherr bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht weiterbauen darf. Manchmal stoppen Bauherren von sich aus die Arbeiten, sodass ein Hängebeschuss nicht notwendig ist.
Es gibt aber auch Fälle, in denen Gerichte keinen Hängebeschluss erlassen und die Bauherren die Bauarbeiten unbeeindruckt fortsetzen. Solche Fälle sind für betroffene Nachbarn besonders misslich, da ihr Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit der Fertigstellung des Rohbaus unzulässig wird, soweit sich der Antrag auf Beeinträchtigungen stützt, die vom Baukörper ausgehen. Um eine Zurückweisung als unzulässig zu vermeiden, wäre eine Erledigungserklärung abzugeben. Nachbarn sind daher gut beraten, auf den Erlass eines Hängebeschlusses hinzuwirken.
Muster Antrag auf Erlass einer prozessualen Zwischenverfügung – Hängebeschluss
Wenn das Gericht allerdings eine solche prozessuale Zwischenverfügung nicht erlässt, bleibt dem Nachbarn nur noch das Hauptsacheverfahren (Anfechtungsklage).
Da der Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses durch die Fertigstellung des Rohbaus nur für diejenigen Beeinträchtigungen eintritt, die vom Baukörper ausgehen, empfiehlt sich stets eine umfassende Begründung des Antrags, indem sowohl Beeinträchtigungen durch den Baukörper als auch dessen spätere Nutzung angegriffen werden.
Nutzungsunabhängige Beeinträchtigungen durch den Baukörper – hier droht der Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses durch Fertigstellung des Rohbaus:
Beeinträchtigungen, die mit der Nutzung zusammenhängen:
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