Aufgrund einer Genmutation (BRCA2) bestand für die Klägerin eine 80%-ige Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs zu erkranken. Die von den Ärzten als Hochrisikopatientin eingestufte Klägerin entschied sich daher zu einer vorsorglichen operativen Entfernung der Brustdrüsen und einer Rekonstrukton mittels Implantaten. Damit wollte sie der zu erwartenden Krebserkrankung zuvorkommen, die bereits zwei Verwandte der Klägerin in gerade Linie erleiden mussten. Die Klägerin beantragte, weil sie Beamte ist, bei ihrem Dienstherrn, dem Land Hessen, die Übernahme der Kosten. Das Land lehnte ihren Beihilfeantrag ab. Die hiergegen erhobene Klage hatte in beiden Instanzen Erfolg. Noch während des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens ließ die Klägerin, die nicht länger warten wollte, die Operation durchführen. Das Bundesverwaltungsgericht hob das Urteil des OVG aber auf und verwies die Sache zurück an das OVG.
Die Voraussetzungen für die Übernahme der Kosten für eine vorsorgliche Operation lagen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht vor. Der geltend gemachte Beihilfesanspruch setzt das Vorliegen einer Krankheit voraus. Darunter ist im beamtenrechtlichen Beihilferecht dasselbe zu verstehen, wie im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Krank ist danach nur, wer in seinen körperlichen oder geistigen Funktionen beeinträchtigt ist. Eine solche Funktionsbeeinträchtigung lag bei der Klägerin nicht vor, da sie noch nicht an Krebs erkrankt war. Das BVerwG zieht in Erwägung, dass bei Vorliegen eines erhöhten Erkrankungsrisikos auch ohne konkrete Funktionsbeeinträchtigung vom Vorliegen einer “Krankheit” auszugehen sein kann, nämlich dann, wenn die konkrete Gefahr einer schweren Gesundheitsbeschädigung besteht und die Folgen im Falle des Ausbruchs so schwer sind, dass die Behandlungsbedürftigkeit bereits vor Ausbruch der der Krankheit zu bejahen ist und es dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann, den Ausbruch der Krankheit abzuwarten und sich auf Früherkennungsmaßnahmen zu beschränken. Dabei seien – so das BVerwG – neben dem statistischen Lebenszeitrisiko, also der Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Lebens einmal an Krebs zu erkranken, auch die das individuelle Risiko, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu erkranken und das Vorhandensein von Früherkennungsmaßnahmen zu berücksichtigen. Dabei müssen die Früherkennungsmaßnahmen hinreichend sensitiv sein, um gute Heilungschancen zu bieten. Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des OVG nicht gerecht. Es wird daher im Rahmen der abermaligen Verhandlung eine weitere Sachaufklärung zu betreiben haben.
Hindergrund: Die Entscheidung überrascht. Soll es jemandem, der in der Verwandtschaft bereits zwei Krebsfälle zu beklagen hat und der mit 80%-iger Wahrscheinlichkeit selbst auch an Krebs erkranken, zuzumuten sein, zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen, anstatt das Risiko durch eine verhältnismäßig einfache und risikoarme Operation zu beseitigen?
Das BVerwG hat nicht geurteilt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf eine vorsorgliche OP hat, sondern nur, dass die Voraussetzungen durch das OVG nicht ausreichend geprüft worden sind. Deshalb kann es sein, dass das OVG nach ordentlicher Prüfung zu demselben Ergebnis gelangt und der Klägerin die Beihilfe schlussendlich zuspricht.
Die Entscheidung hat über das beamtenrechtliche Beihilferecht hinaus Bedeutung, denn die Ausführungen gelten sinngemäß für das Recht der Krankenversicherungen. Wer also nicht Beamter oder Beamtin ist, wird sich in der Auseinandersetzung mit der Krankenkasse um eine vorsorgliche Operation mit denselben Fragen zu befassen haben. Ein Aspekt, der – zumindest nach Maßgabe der vorliegenden Presseerklärung des Bundesverwaltungsgerichts – nur ansatzweise zum Ausdruck kommt, dürfte dabei eine große Rolle spielen: Die Aussicht, mit großer Wahrscheinlichkeit an einer lebensbedrohlichen Krankeit zu erkranken, kann einen psychischen Leidensdruck verursachen, der unabhängig von Vorsorgeuntersuchungen ein Krankheitsbild darstellen kann, das im Einzelfall eine vorsorgliche Operation rechtfertigt.
BVerwG, Urteil vom 28.09.2017 – 5 C 10.16
VGH Kassel, Urteil vom 28.09.2017 – 1 A 1261/15
VG Darmstadt, Urteil vom 13.05.2015 – 1 K 491/13.DA
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