Wer seine ÖPNV-Monatskarte oder -Jahreskarte nutzt und deshalb keine Einzelfahrscheine kauft, kann einen Erstattungsanspruch in Höhe der Kosten für Einzelfahrscheine geltend machen. So entschied es das Amtsgericht Marburg (71 F 301/19 EASO).
Das Gesetz sieht vor, dass die Erstattung von Fahrtkosten für Bus & Bahn erfolgt, wenn diese tatsächlich angefallen sind.
“Bei der Benutzung von öffentlichen … Beförderungsmitteln werden die tatsächlich entstandenen Auslagen … ersetzt.”
§ 5 Absatz 1 JVEG
Nutznießer dieses Anspruchs sind unter anderem gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich hinzugezogene Zeugen, Sachverständige und Dolmetscher. Auch gerichtlich bestellte Ergänzungspfleger gehören dazu.
Ein Ergänzungspfleger hatte bei einem Antrag auf Festsetzung der Vergütung die Kosten für Einzelfahrkarten veranschlagt. Tatsächlich hatte er aber gar keine Einzelfahrkarten gekauft, sondern eine OPNV-Jahreskarte genutzt. Diese nutze er nur in geringem Umfang auch privat. Der zuständige Rechtspfleger lehnte die Festsetzung ab. Ersatzfähig seinen nur tatsächliche Auslagen. Kosten für Einzelfahrkarten seien aber gar nicht angefallen. Und bei einer auch privat nutzbaren Dauerkarte können Einzelfahrten nicht herausgerechnet werden. Hiermit gab sich der Ergänzungspfleger nicht zufrieden und legte die Ablehnung dem Gericht vor. Mit Erfolg.
Das Amtsgericht Marburg billigte dem Ergänzungspfleger die Erstattung fiktiver Kosten für Einzelfahrkarten zu.
Zwar sehe das Gesetz nur die Erstattung von tatsächlichen Kosten vor, § 5 Absatz 1 JVEG. Der Antragsteller habe aber glaubhaft gemacht, dass er die Jahreskarte anlässlich seiner Tätigkeit als Ergänzungspfleger erworben hat.
Eine Belastung der Staatskasse sei durch die Abrechnung von fiktiven Einzelfahrkarten nicht zu erkennen. Denn in Summe seien die fiktiv abgerechneten Einzelfahrkarten billiger als die Jahreskarte. Dass er die Karte auch für private Zwecke nutzt, spiele keine Rolle, so das Gericht.
Das Amtsgericht begründet seine Auffassung mit einer verfassungskonformen Auslegung. § 5 JVEG sei im Lichte der Klimakatastrophe und dem staatlichen Schutzauftrag gemäß Art. 2 Absatz 2 GG so auszulegen, dass auch fiktive Kosten veranschlagt werden dürfen. Demgemäß sei umwelt- und ressourcenschonendes Verhalten zu honorieren.
Ferner bemüht das Gericht den Gleichheitssatz (Art. 3 GG), denn es sei ungerecht, dass Autofahrer ohne weitere Nachweise Erstattung verlangen könnten, dies aber Besitzern von Jahreskarten verwehrt bleiben solle.
Das Amtsgericht möchte eine tatsächlich bestehende Ungerechtigkeit beseitigen. In der Tat ist es unverständlich, warum Inhaber von auch privat genutzten Dauerkarten keine Fahrtkosten abrechnen dürfen. Jedenfalls bis zur Höhe der Kosten für die Dauerfahrkarte sollte das möglich sein.
Das Amtsgericht Marburg setzt sich in Widerspruch zu anderen Entscheidungen, die eine fiktive Abrechnung von Einzelfahrkarten bei der Nutzung einer Dauerkarte ablehnen (z. B. SG Karlsruhe – S 1 KO 3624/17) oder allenfalls eine fiktive Aufteilung der Dauerkarte in Erwägung ziehen (OLG Koblenz – 14 W 73/93).
Die Marburger Entscheidung mag inhaltlich überzeugen, weil sei einfach und pragmatisch ist. Einer verfassungskonformen Auslegung wäre allerdings eine Klarstellung des Gesetzgebers vorzuziehen. § 5 Absatz 1 JVEG könnte ohne Weiteres dahingehend ergänzt werden, dass bei der Nutzung von Dauerkarten (Monatskarten oder Jahreskarten) auf der Basis von fiktiven Einzelfahrkarten abgerechnet werden darf, höchstens aber bis zum Preis der Dauerkarte.
AG Marburg, Beschluss vom 13.08.2020 – 71 F 301/19 EASO
Siehe auch:
SG Karlsruhe, Beschluss vom 26.10.2017 – S 1 KO 3624/17
OLG Koblenz, Beschluss vom 25.03.1993 – 14 W 73/93
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