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Schweinestall zulässig trotz Überschreitung von Grenzwerten – Vorbelastungen machen’s möglich (BVerwG, Urt. v. 27.06.2017 – 4 C 3.16)

Wenn an einem Standort die Grenzwerte für störende Gerüche, Schall oder andere Unannehmlichkeiten überschritten sind, steht das in der Regel der Errichtung weiterer störender Anlagen entgegen. Von dieser Regel gibt es aber auch Ausnahmen, und zwar dann, wenn an dem Standort bereits erhebliche Vorbelastungen vorliegen. Mit einer solchen Ausnahme hatte sich das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) zu befassen: Gegenstand des Streits war eine Genehmigung zur Errichtung eines Ferkelzuchtstalls für bis zu 1920 Ferkel, drei Futtersilos und einen Güllebehälter. Gegen die Genehmigung hatte eine Anliegerin geklagt, die unter anderem die unzumutbaren Geruchsemissionen beanstandete. In unmittelbarer Nähe zum Wohnhaus der Klägerin, die selbst Pferde hält, befinden sich sechs weitere landwirtschaftliche Betriebe, in denen Rinder und Schweine gehalten werden. Während die Klägerin sowohl im Verwaltungsverfahren und in erster Instanz erfolglos blieb, hob das Oberverwaltungsgericht Lüneburg die Genehmigung auf, da das Bauvorhaben das Gebot der Rücksichtahme verletze. Die bereits vorhandenen Beeinträchtigungen seien bereits so erheblich, dass keine weiteren emittierenden Anlagen mehr zugelassen werden können, und zwar auch dann, wie es dort der Fall war, wenn die neue Anlage den Zustand nicht verschlechtert, sondern sogar zu einer leichten Verbesserung führt. Die hiergegen eingelegte Revision zum BVerwG hatte Erfolg: Das Bundesverwaltungsgericht hielt die Aufhebung der Genehmigung für rechtsfehlerhaft und verwies die Sache zurück an das OVG.

Nach der hier heranzuziehenden Geruchsimmissions-Richtlinie – GIRL – gilt in Dorfgebieten eine Geruchshäufigkeit von bis zu 15% der Jahresstunden als zumutbar. Nach dem vorliegenden Geruchsgutachten war das klägerische Wohngrundstück aber bereits ohne Berücksichtigung des neuen Vorhabens mit 34,7% der Jahresstunden störenden Gerüchen ausgesetzt. Nach Errichtung des Vorhabens wurde eine geringfügige Senkung auf 33,7% der Jahresstunden prognostiziert. Die durch das OVG gezogene Schlussfolgerung, dass die weit über 20% liegende Belastung unzumutbar sei, hielt das BVerwG für rechtswidrig, denn damit habe das OVG die Vorbelastungen rechtsfehlerhaft gewürdigt. Das Gebot der Rücksichtnahme, das in § 35 Absatz 3 Satz 1 Nummer 3 BauGB Ausdruck findet, stehe einem privilegierten Außenbereichsvorhaben (§ 35 Absatz 1 BauGB) unter anderem dann entgegen, wenn es schädliche Umweltauswirkungen hervorrufen kann. Dabei gilt das immissionsschutzrechtliche Verständnis der schädlichen Umweltauswirkungen (vgl. § 3 Absatz 1 BImSchG), wonach auch Geruchsimmissionen darunter fallen, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen. Die Zumutbarkeit bestimme sich, so das BVerwG, anhand der Schutzwürdigkeit des Baugebiets. Vorbelastungen wirken sich schutzmindernd aus, sodass bei einem Standort, der bereits durch emittierende Nutzungen vorgeprägt ist, weitere Anlagen errichtet werden können, sofern sich die Gesamtbelastung dadurch nicht verschlechtert und die Grenze zur Gesundheitsgefährdung nicht überschritten wird und die Anforderungen von § 22 Absatz 1 BImSchG (zumutbare Vermeidungs- und Schutzmaßnahmen) eingehalten werden. Da das BVerwG keine Aussage zu den Voraussetzungen von § 22 Absatz 1 BImSchG treffen konnte, wurde der Streit zur erneuten Verhandlung an das OVG zurückverwiesen.

Die Entscheidung ist sowohl für das öffentliche Baurecht als auch für das Immissionsschutzrecht interessant. Denn bislang gab es für den Umgang mit Vorbelastungen keine einheitliche Linie, wenn ein Vorhaben oberhalb der zulässigen Grenzwerte errichtet werden sollte. Fortan gilt:

Vorhaben sind, wenn die in dem jeweiligen Baugebiet zulässigen Grenzwerte überschritten werden, unter folgenden Voraussetzungen – vorbehaltlich einer Abwägung im Einzelfall – zulässig:

  • Es sind bereits Vorbelastungen vorhanden, die die Grenzwerte überschreiten,
  • die Vorbelastungen überschreiten die Schwelle der Gesundheitsgefahr nicht,
  • das Vorhaben führt nicht zu einer Verschlechterung der Situation,
  • § 22 Absatz 1 BImSchG wird beachtet, insbesondere im Hinblick auf Vorsorge und Vermeidungsmaßnahmen.

Fazit: Aus praktischer Sicht verdient die Entscheidung Zustimmung. Erstens weil sie eine klare Aussage zum Umgang mit Vorbelastungen trifft und damit zur Rechtssicherheit beiträgt. Zweitens weil sie praxisnah ist, denn wenn an einem Standort bereits große Belastungen vorhanden sind und sich die Lage durch ein weiteres Vorhaben nicht verschlechtert, gibt es keinen Grund, das weitere Vorhaben zu untersagen. Andererseits ist der Rechtsauffassung des OVG zuzugeben, dass jedes weitere Vorhaben zu einer Verfestigung der Störungen führt und Betroffene damit praktisch die Möglichkeit genommen wird, jemals in den Bereich des eigentlich Zumutbaren zu gelangen. Eine solche Perpetuierung des kraft Vorbelastung Erlaubten nimmt das Bundesverwaltungsgericht in Kauf. Die investitionsfreundliche Entscheidung macht es Betroffenen schwerer, gegen Vorhaben vorzugehen, wenn am Standort bereits erhebliche Vorbelastungen vorhanden sind. Denn im Prinzip kann resümiert werden, dass, je schlimmer die Vorbelastungen sind, umso mehr erlaubt ist.

BVerwG, Urteil vom 27.06.2017 – 4 C 3.16

OVG Lüneburg, Urteil vom 09.06.2015 – OVG 1 LC 25/14

VG Stade, Urteil vom 14.11.2013 – VG 2 A 2625/12

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