Kinder sind als Teilnehmer im Straßenverkehr oft besonders gefährdet. Dies liegt unter anderem daran, dass sowohl die Konzentrationsfähigkeit als auch das Reaktionsvermögen noch nicht vollständig ausgebildet sind. Kommt es dann zu einem Unfall, stellt sich die Frage, wen ein Verschulden trifft. Insbesondere dann, wenn das Kind als Verkehrsteilnehmer die geltenden Vorschriften nicht beachtet hat.
Das Oberlandesgericht Celle (OLG Celle) hatte über einen schweren Verkehrsunfall mit einem 12-jährigen Jungen zu entscheiden. Der Junge fuhr mit seinem Fahrrad (ohne Helm) auf dem Radweg. Parrallel zum Radweg verlief eine Straße. Dort fuhr die Beklagte mit ihrem Auto mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h. Sie näherte sich einem Zebrastreifen, fuhr aber mit unveränderter Geschwindigkeit weiter. Plötzlich bog der Junge, ohne vorher anzuhalten oder ein entsprechendes Zeichen zu geben, nach links auf den Zebrastreifen, um die Straße zu überqueren. Es kam zu einem Zusammenstoß mit der Beklagten. Der Junge wurde mehrere Meter weit auf die Straße geschleudert. Er erlitt schwerste Verletzungen, unter anderem am Kopf.
Nach einem langen stationären Aufenthalt in der Klinik und Reha konnte sich der Zustand des Jungen verbessern. Nun ging es um die Frage, wer trägt die Schuld an dem Unfall und liegt möglicherweise ein Mitverschulden des Jungen vor?
Hierüber hatte das OLG Celle zu entscheiden. Nach einer umfangreichen Beweisaufnahme stand fest, dass der Junge ohne anzuhalten oder ein Handzeichen zu geben, auf den Zebrastreifen abbog. Hiermit musste die Beklagte als Fahrzeugführerin nicht rechnen, auch wenn es sich um ein Kind handelte. Dies stellt das OLG Celle klar.
Das Gericht stellt auch klar, dass bei Kindern zwar eine besondere Aufmerksamkeit geboten ist. Der Fahrer muss seine Fahrweise entsprechend anpassen. Allerdings gilt dies nur dann, wenn das Verhalten des Kindes oder die Situation Auffälligkeiten zeigt, die zu einer konkreten Gefahr führen könnten. Dies war hier nicht der Fall, so das Gericht.
Auch auf die Vorschrift des § 26 STVO konnte sich der Junge nicht berufen. Hiernach haben Fahrzeuge an Zebrastreifen anzuhalten, wenn ein Fußgänger die Straße überqueren möchte. Der Junge war kein Fußgänger, sondern Radfahrer. Für Radfahrer gilt die Vorschrift nicht, es sei denn das Rad wird geschoben. Hierauf weist das Gericht hin.
Da der 12-jähre Junge altersgemäß entwickelt war, hatte er nach Auffassung des Gerichts auch die für ein Mitverschulden erforderliche Einsichtsfähigkeit.
Die Fahrzeugführerin trifft allein wegen der allgemeinen Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs ein Mitverschulden. Das OLG Celle entschied jedoch, dass den 12-jährigen Jungen ein überwiegendes Mitverschulden trifft, nämlich zu 2/3. Die Mitverschuldensquote der Fahrerin lag hingegen nur bei 1/3, so das Gericht.
Dementsprechend war auch ein dem Jungen zustehendes Schmerzensgeld zu berechnen.
Die Vorinstanz war noch von einem niedrigeren Verschuldensanteil des Jungen ausgegangen. Dieses Urteil hob das OLG Celle auf. Die Revision ließ das OLG nicht zu. Damit dürfte das Urteil mittlerweile rechtskräftig sein.
OLG Celle, Urteil vom 11.10.2023 – 14 U 157/22
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