Kein Verlust des Anspruchs bei „Mitabrechnung” von Unfall-Vorschaden (LG Hagen, Urt. v. 17.07.2020 – 1 S 19/20)

Wer nach einem Unfall Ersatz verlangen kann, dabei aber einen Vorschaden verschweigt oder bestreitet, riskiert seinen Schadensersatzanspruch.

Überhöhte Reparaturkosten als Treuebruch

Viele Gerichte sehen in dem Verschweigen eines Vorschadens einen Treuebruch, der den Schadensersatzanspruch des Geschädigten insgesamt entfallen lässt. Grund: Wenn an dem Auto ein Vorschaden vorhanden ist, der nicht zu dem Unfall passt, lässt sich nicht ausschließen, dass auch die mit dem Unfall kompatiblen Schäden durch den ersten Unfall mitverursacht wurden. Der Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten entfällt dann vollen Umfangs (§ 242 BGB).

Verlust des gesamten Anspruchs – Urteil

OLG Köln – 16 U 33/98; OLG Frankfurt – 16 U 195/03; LG Essen – 1 O 251/17; LG Münster – 2 O 462/11, 11 O 279/11; AG Böblingen – 21 C 444/07

Urteil Vorschaden

Andere Auffassung LG Hagen: Kein Verlust des gesamten Anspruchs

Das Landgericht Hagen vertritt dazu eine andere Auffassung (1 S 19/20). In dem Verfahren hatte ein Geschädigter Reparaturkosten vom Verursacher verlangt und dabei versucht, einen Vorschaden aus einem früheren Unfall mit „abzurechnen“. Nach dem Urteil des Landgerichts Hagen führte dieses Verhalten nicht zum Wegfall des Gesamtanspruchs.
Vielmehr kann der Geschädigte nach dem Urteil trotz des treuwidrigen Verhaltens die tatsächlich auf den streitigen Unfall rückführbaren Schäden ersetzt verlangen.

Nach Auffassung der Hagener Richter existiert kein allgemeiner Grundsatz der besagt, dass nur rechtstreue Anspruchsteller ihre Rechte durchsetzen können. Der Verlust eines Anspruchs durch treuwidriges Verhalten komme daher nur insoweit in Betracht, wie der Anspruch durch das treuwidrige Verhalten begründet wurde.

Aufgabe des Zivilrechts, so das LG Hagen, sei die Regelung der Rechte zwischen Rechtssubjekten. Die Aufgabe, Fehlverhalten zu sanktionieren, sei hingegen Sache des Strafrechts.

Selbstverständlich ist es Geschädigten nicht gestattet, Vorschäden geltend zu machen. Die Geltendmachung des nachweislich unfallbedingten Schadens bleibt dem Geschädigten aber gestattet.

Hintergrund & Kritik

Aus rechtlicher Sicht verdient das Vorschaden-Urteil des Landgerichts Hagen Zustimmung. Das Urteil liefert eine gute Begründung und setzt sich detaillierter mit der Rechtsfrage des treuwidrigen Verhaltens auseinander als dies viele andere Entscheidungen tun.

Rechtspolitisch ist das Urteil allerdings kritisch zu sehen, denn es schafft eine Motivation dafür, dass Unfallgeschädigte versuchen, Vorschäden „mitabzurechnen“. Das ist ein falscher Anreiz.
Die Argumentation der Kammer, dass eine Sanktionierung von Fehlverhalten nicht Aufgabe des Zivilrechts, sondern des Strafrechts sei, überzeugt nicht auf ganzer Linie. Denn wer sich selbst gegen das Recht stellt, soll nicht davon profitieren. Dieses Prinzip gilt für das gesamte Recht und lässt die von den Hagener Richtern gewählte Differenzierung zwischen Zivil- und Strafrecht arg gekünstelt erscheinen.

LG Hagen, Urteil vom 17.07.2020 – 1 S 19/20

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