Das Vorfahrtsrecht entfällt nicht, wenn ein Fahrzeug auf einer vorfahrtsberechtigten Straße rechtswidrig überholt. Bei Einfahren in eine vorfahrtsberechtigte Straße kann der Fahrer jedoch auch darauf vertrauen, dass nicht rechtswidrig überholt wird. Kommt es in diesem Fall zu einer Kollision, haftet jeder zur Hälfte für den Schaden. So entschied das Oberlandesgericht München (OLG München) in seinem Urteil vom 15.03.2019 (10 U 2655/18).
Die Klägerin befuhr eine vorfahrtsberechtigte Straße. Da sich der Verkehr dort staute, fuhr die Klägerin links an der Kolonne vorbei. Die Fahrzeuge in der Kolonne wollten rechts abbiegen, was sie durch Setzen des entsprechenden Blinkers anzeigten. Die Klägerin fuhr an der Kolonne mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h vorbei. Beim Vorbeifahren überfuhr sie auch zum Teil die ununterbrochene Mittellinie. Die Beklagte bog von rechts kommend mit einer Geschwindigkeit von ca. 10 km/h in die vorfahrtsberechtigte Straße ein. Dabei kam es zur Kollision mit der Klägerin. An den Fahrzeugen entstand ein erheblicher Sachschaden.
Die Klägerin ging von einer Schuld der Beklagten aus. Sie verlangte Ersatz des ihr entstandenen Schadens. Die Beklagte nahm eine Teilzahlung vor. Sie ging von einem Mitverschulden der Klägerin aus, da diese verkehrswidrig überholte.
Die Klägerin erhob Klage beim zuständigen Landgericht. Das Landgericht hat einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz verneint. Die Klägerin legte daraufhin Berufung beim OLG München ein. Das OLG München hatte nun über etwaige Ansprüche der Klägerin zu entscheiden.
Das OLG München gab der Klägerin zum Teil Recht. Trotz des verkehrswidrigen Überholens hat die Klägerin einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte. Denn das Vorfahrtsrecht der Klägerin war nicht durch ihr rechtswidriges Überholen entfallen. So entschied das OLG München. Mit dem Einfahren in die vorfahrtsberechtigte Straße war die Klägerin ca. 14 m von der Kreuzung entfernt. Dies stellte der gerichtlich bestellte Sachverständige fest.
Die Klägerin war für die Beklagte beim Einfahren in die vorfahrtsberechtigte Straße sichtbar. Bei einer entsprechenden Blickzuwendung hätte die Beklagte die Klägerin sehen müssen. Der Zusammenstoß hätte bei rechtzeitigem Bremsen bzw. Warten vermieden werden können, so das OLG München. Daher lag nach Auffassung des OLG München ein Vorfahrtsverstoß der Beklagten vor.
Aber auch die Klägerin traf nach dem Urteil des OLG München ein Mitverschulden an dem Unfall. Sie überfuhr während des Überholens die ununterbrochene Mittellinie, Zeichen 295. Diese Linie dient als Fahrstreifenbegrenzung und schützt in erster Linie den Gegenverkehr. Aber auch das Vertrauen des Vorausfahrenden darauf, nicht überholt zu werden, wird nach höchstrichterlicher Rechtsprechung des BGH geschützt (BGH, Urteil vom 26.11.1974 – VI ZR 10/74).
Nach Auffassung des OLG München schützt diese Linie darüber hinaus auch den einbiegenden Fahrer. Dieser darf ebenfalls darauf vertrauen, dass nicht „unter Inanspruchnahme einer für den Gegenverkehr bestimmten Fahrspur überholt wird“. Hierauf weist das OLG München in seinem Urteil hin. Demzufolge durfte auch die Beklagte beim Einbiegen darauf vertrauen, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht überholt und die Mittellinie überfährt. In dem verkehrswidrigen Überholen der Klägerin lag nach Einschätzung des Sachverständigen eine erhebliche Mitursache des Unfalls. Denn nur durch diesen Verkehrsverstoß war die Klägerin an die Unfallstelle gelangt, so das OLG München. Daher trifft nach Auffassung des OLG München auch die Klägerin ein erhebliches Mitverschulden.
Das OLG München geht aufgrund der vorliegenden Verkehrsverstöße von einem hälftigen Mitverschulden sowohl der Klägerin als auch der Beklagten aus. Es entschied auf die Berufung der Klägerin, dass die Beklagte den entstandenen bzw. aufgrund der Reparatur noch entstehenden Schaden zu 50% ersetzen muss. Im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen.
OLG München, Urteil vom 15.03.2019 – 10 U 2655/18
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