Nach einer nicht bestandenen Wiederholungsprüfung in der juristischen Pflichtfachprüfung (früher erste Juristische Staatsprüfung) klagte ein Prüfling gegen die Bewertung. Es war der letzte Versuch, ein Durchfallen wäre das endgültige Aus des Traums von der Karriere als Richter, Staatsanwalt oder Anwalt. Der Prüfling beanstandete die Bewertung mehrerer Klausuren (ZR I, ZR II, EuR, SR II, ÖR I und ÖR II). Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) gab ihm Recht. Die Bewertung der zivilrechtlichen Klausur ZR I war tatsächlich zu beanstanden, da die Korrektur drei Fehler an der Arbeit ausgewiesen hat, die gar keine Fehler waren. So hielt es der Korrektor für erforderlich, dass bei der Beantwortung der Aufgabenstellung, die darauf gerichtet war zu prüfen, ob ein Vertrag zustande gekommen ist, Paragraph „§ 433 BGB“ (Kaufvertrag) zu nennen war. Das sah der Prüfling anders: Für das wirksame Zustandekommen des Vertrags ist die Vertragsart nicht zwingend zu nennen. Dieser Argumentation folgte das Verwaltungsgericht. Punktabzug war daher wegen der unterbliebenen Nennung des Paragraphen nicht gerechtfertigt. Ebenso verhielt es sich mit der Prüfung der für die Vertretung einer Kommanditgesellschaft erforderlichen Voraussetzungen: Die Prüfer kritisierten an der Arbeit ZR I, dass eine Vertretung der Gesellschaft nicht durch ihre Kommanditisten erfolge. Das hatte der Prüfling in der Klausur aber gar nicht geschrieben. Auch das war ein Bewertungsmangel. Außerdem, so kritisierten die Prüfer, habe der Prüfling bei der Prüfung der Stellvertretung die Vorschrift § 53 HGB nicht genannt. Auch das rechtfertigte nach Auffassung des Verwaltungsgerichts keinen Punktabzug, da diese Vorschrift eine bloße Ordnungsvorschrift darstellt, die nicht die Voraussetzungen der wirksamen Erteilung einer Prokura, dabei handelt es sich um eine spezielle Art der Vollmacht, regelt. Die Bewertung der Klausur ZR I war daher rechtswidrig und es ist dem beklagten Prüfungsamt nicht gelungen, die Beanstandungen zu entkräften. Das Verwaltungsgericht entschied, dass die fehlerhafte Bewertung der Klausur die Rechtswidrigkeit des Bescheids über das Nichtbestehen der Prüfung zur Folge hat und gab der Klage des Prüflings statt. Ob die Bewertungen der anderen Klausuren ebenfalls zu beanstanden waren, ließ das Verwaltungsgericht offen.
Das beklagte Prüfungsamt wandte sich gegen das Urteil und beantragte beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG BB) die Zulassung der Berufung. Ohne Erfolg. Das Prüfungsamt machte geltend, dass nicht hinzunehmen sei, dass das Verwaltungsgericht lediglich eine Klausur überprüft habe aber die anderen Klausuren nicht. Darin liege ein Verstoß gegen die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Absatz 4 GG. Dem folgte das OVG BB nicht. Zwar sei die auf Klausur ZR I beschränkte Prüfung des Verwaltungsgerichts zu beanstanden, denn das Gericht hat im Rahmen der Amtsermittlungspflicht nach § 86 VwGO grundsätzlich umfassen allen vom Prüfling gerügten Beanstandungen nachzugehen. Das heißt, dass das Verwaltungsgericht auch die Kritik an den Bewertungen der Klausuren ZR II, EuR, SR II, ÖR I und ÖR II hätte prüfen müssen. Dieses Unterlassen begründet aber keine Rechtverletzung beim Prüfungsamt, denn dem Prüfungsamt steht kein Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu (Art. 19 Absatz 4 GG) zu. Vielmehr ist das Prüfungsamt selbst Teil der Staatsgewalt (§ 2 Satz 1 BbgJAG) und kann sich deshalb nicht auf das Grundrecht berufen, denn Grundrechte dienen dem Schutz des Bürgers gegen die Staatsgewalt. Dass das Verwaltungsgericht nicht alle Klausuren der Prüfung gewürdigt hat, stellt vielmehr einen Verstoß gegen Rechte des Prüflings dar, was aber keine Rolle spielt, wenn sich dieser nicht gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gewehrt hat. So lag der Fall hier.
Hintergrund: Die Anfechtung von Prüfungsentscheidungen gewinnt an Bedeutung. Kein Wunder, denn Prüfungen entscheiden maßgeblich über den Lebensweg und das, was ein Mensch erreichen kann, oder nicht. Die OVG-Entscheidung wirft interessante prüfungsrechtliche Fragestellungen auf. So ist es Prüflingen nicht gestattet, einzelne Klausuren der ersten Juristischen Staatsprüfung anzufechten, sondern nur die Bewertung insgesamt. Freilich erfolgt dann inzident die Kontrolle einzelner Klausuren. Das OVG hat klargestellt, dass das Verwaltungsgericht dabei nicht einzelne vorgebrachte Beanstandungen offenlassen darf. Dass darin kein Verstoß gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Absatz 4 GG liegt, ist rechtlich zutreffend, denn dieses Recht hat der Staat dem Bürger zu gewähren und es ist ausgeschlossen, dass die öffentliche Gewalt sich darauf beruft. Zutreffend stellt das OVG darauf ab, dass das Prüfungsamt nicht an den Grundrechten zu messen ist, sondern an den Aufgaben- und Befugnisnormen, die für das Prüfungsamt gelten (§ 2 Satz 1 BbgJAG). Da das Prüfungsamt einzelne Klausuren gar nicht gewürdigt hat, stellt sich die Frage, wie es in dem Fall weitergeht. Formal ist es nun Sache des Prüfungsamts, eine neue Bewertung vorzunehmen. Gegen diese Neubewertung kann der Prüfling erneut vorgehen. So kann er erreichen, dass auch die anderen Klausuren gerichtlich überprüft werden. Dass das wenig effizient ist, liegt auf der Hand aber es ist hinzunehmen. Wenn das Verwaltungsgericht seinen Job ordentlich gemacht hätte und alle Beanstandungen geprüft hätte, dann wäre es für alle Beteiligten einfacher, denn das Prüfungsamt hätte eine Vorgabe dazu, wie es mit den anderen Beanstandungen verfahren kann.
Rechtswidrige Bewertungen in Staatsprüfungen sind leider keine Seltenheit. Nach dem Prinzip „wo kein Kläger da kein Richter“ bleiben allerdings die meisten Schlampereien unentdeckt. Leidtragende sind die Prüflinge, die sich mit schlechten Noten abgeben müssen oder ihren Traumberuf vergessen können. Bei manchen Prüfungsämtern hat schlechte Qualität System. Das liegt daran, dass Juristen, von Professoren einmal abgesehen, meistens keine Vorteile haben, wenn sie sich als Prüfer oder Korrektor engagieren. Im Gegenteil: die Korrektur von Klausuren und die Vorbereitung mündlicher Prüfungen kosten Zeit, in der kein Geld verdient werden kann. Die Vergütung, die Juristen für die Korrektur von Klausuren erhalten, ist im Vergleich zu dem was sie sonst verdienen können lächerlich. Für Staatsbedienstete (Richter, Staatsanwälte und Beamte aus Behörden) ist das Engagement für Prüfungen daher meistens eine lästige Pflicht und Anwälte, die sich als Prüfer engagieren, tun das oft deshalb, weil sie im Beruf nicht erfolgreich sind. Bei Menschen, die im Beruf nicht erfolgreich sind, besteht eine latente Frustgefahr. Prüflingen, die mit der Bewertung ihrer Leistung nicht zufrieden sind, hilft diese Systemkritik aber nicht weiter, denn sie müssen das System nehmen wie es ist. Zum System gehört aber auch das Recht, Entscheidungen gerichtlich überprüfen zu lassen. Davon sollten Prüflinge Gebrauch machen.
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 08.01.2018 – OVG 6 N 33.17
VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 07.04.2017 – VG 1 K 972/14
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